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"MEINE GLÜCKLICHE KINDHEIT..."

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Die Glorifizierung von Kindheit und Jugend in der Erinnerung älterer Menschen

Alte Menschen erzählen gern von ihrer Kindheit und Jugend. Ob das alles so stimmt bzw. nicht unkritisch beschönigt wird, ist eine andere Frage. Sinnvoll ist es allemal. Besonders dann, wenn die Zukunftsperspektiven verloren zu gehen drohen oder ernsthafte Beeinträchtigungen in der Lebenssituation belasten. Das Erinnern im Alter ist von großer subjektiver Bedeutsamkeit für die Psychohygiene in diesem ohnehin oft seelisch, geistig, körperlich und psychosozial beeinträchtigten Lebensabschnitt.

"Alle wollen es werden, keiner will es sein: alt". Man kennt diesen ironischen Satz, der leider auch etwas für sich hat. Und in der Tat: Das Alter ist ja auch tatsächlich mit einer Vielzahl von Einbußen, Verlusten, ja Frustrationen, Kränkungen und Demütigungen verbunden. Und unsere Zeit und Gesellschaft bemüht sich hier ja auch immer weniger mildernd einzugreifen und zwischenmenschlich etwas gegenzusteuern. Das ist verhängnisvoll. Denn alt werden alle einmal - oder wollen es zumindest werden, trotz der bisweilen wenig verlockenden Bedingungen.

Nachdem also in unserer Kultur die Zukunft für viele alte Menschen (wenngleich nicht alle - siehe später) jegliche Perspektiven verloren hat und neue sinnstiftende Möglichkeiten und Rollen offenbar begrenzt sind, bleibt häufig nur noch eines: die Erinnerung an die Vergangenheit.

Sie leben vom Gedächtnis anstatt von der Hoffnung, weil das, was ihnen vom Leben bleibt, wenig ist im Vergleich zur langen Vergangenheit (Aristoteles, griechischer Philosoph, 384 bis 322 vor Christi Geburt).

Dabei fällt nicht nur die Erinnerung an frühere Zeiten, insbesondere die Kindheit auf, sondern noch ein anderer Aspekt, der manchmal rührend, in einigen Fällen fast peinlich bis lächerlich wirkt: die Glorifizierung dieser vergangen Zeit. Warum ist nun gerade die Erinnerung an die Kindheit von solcher Bedeutung?

Alte Menschen erinnern sich anders

Wir erinnern uns über die gesamte Lebensspanne. Im Alter aber erhält das Erinnern eine völlig neue Bedeutung. Dazu gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die besagen:

  • Das verstärkte Erinnern (Fachbegriff: autobiographische Erinnerungen) setzt bereits an der Schwelle zum Alter, also schon um die 50 ein.
  • Eine intensivierte Vergangenheits-Orientierung lässt sich aber schon früher, letztlich in allen Lebensabschnitten registrieren, und zwar dann, wenn sich die Betroffenen mit einer lebensbedrohlichen Krankheit oder einer stark belastenden Lebenssituation konfrontiert sehen.
  • Das verstärkte Erinnern tritt also immer dann in den Vordergrund, wenn die Zukunftsperspektiven verloren zu gehen drohen oder es zu einer ernsthaften Veränderung der Lebenssituation kommt. Dies betrifft gerade den alten Menschen, und zwar schon ohne dramatische Ereignisse.
  • Dabei scheint sich die Qualität des Erinnerns mit zunehmenden Alter zu verändern. Erinnern im Alter ist von größerer subjektiver Bedeutsamkeit. Die im Alter wieder auftauchenden Bilder werden intensiver erlebt, d.h. sind auch mit viel mehr Gemütsregungen verbunden (Fachbegriff: affektiv überlagert).
  • Die Erinnerungen stehen aber auch in enger Beziehung zu unserer aktuellen Lebenssituation. Das heißt, die persönliche Vergangenheit unterliegt einem ständigem Gestaltungsprozess, wie die Fachleute sagen. Oder allgemeinverständlich ausgedrückt:

Die Gegenwart entscheidet nicht unerheblich über das, was einmal war - jedenfalls in der Phantasie.

Das ist aber nicht nur eine "schlichte Schönfärberei" unwiederbringlicher Zeiten, sondern eine wesentliche Unterstützungsmaßnahme für die Erhaltung einer lebensentscheidenden Kontinuität in unserer Identität. Oder wiederum gemeinverständlich:

Es geht uns dann am besten, wenn wir die Gegenwart mit der Vergangenheit in Übereinstimmung bringen können bzw. wenn wir das bleiben dürfen, was wir einmal waren (oder gewesen sein wollen) - Hauptsache, wir gewinnen damit psychische Stabilität.

Das kann allerdings soweit gehen, dass ältere Menschen frühere Zeiten und ihre eigene Geschichte positiver darstellen als sie waren, ja regelrecht mystifizieren (Schwärmerei bis zur Irreführung). Unter diesem Aspekt war früher alles viel großartiger, gerechter, gemütlicher, menschlicher, eindrucksvoller u.a., auch wenn die vergangenen Zeiten letztlich noch so schlecht und das damalige Umfeld noch so problematisch waren.

Was hat also diese rückblickende Verschönerung für eine Funktion?

Erinnerung ersetzt die verlorene Gegenwart

Altern ist mit einer Vielzahl von Verlusten verbunden. Dazu gehören Berentung ("Rentenschock") und Pensionierung ("Pensionierungs-Bankrott"), was im Gegensatz zu dem meist lauthals verkündeten "Mir geht es prächtig" viel mehr Ältere belastet, als man ahnt. Dazu der Tod von Angehörigen, Freunden, Arbeitskollegen und Nachbarn, was einem die "Endlichkeit des eigenen Daseins" besonders drastisch vor Augen führt ("du stehst am aufgeschütteten Grab und könntest selber drinnen liegen"). Dann der Verlust der "physischen Integrität", wie das wohllautend formuliert wird, auf deutsch: Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, Behinderungen, Verschlechterung oder Ausfall der Sinnesorgane, Leistungseinbruch usw. Vielleicht sogar ständig Klinikaufenthalte oder schließlich eine Heimunterbringung.

Damit gehen die "identitätsstiftenden Säulen" verloren, die man vielleicht Jahrzehnte nicht beachtet hat - und plötzlich als entscheidendes Rückgrat des Lebens anerkennen muss, weil sie nach und nach wegbrechen.

Und schließlich: Durch das Wissen um den nahenden Tod schwindet auch gänzlich die Perspektive "Zukunft". Danach ist nichts mehr zu erwarten, danach kommt - nüchtern gesehen - nichts mehr ("nur noch theologische Versprechungen, die noch niemand bewiesen hat" - Zitat). Was bleibt also: nur die Flucht in die Vergangenheit.

Indem man sich vergangene Ereignisse wieder vor Augen führt, kann man zumindest in der Phantasie jene Dinge noch ein wenig bewahren, die einem liebgeworden sind, auch wenn sie real bereits als verloren gelten müssen.

Erinnerungen - was sagt die Wissenschaft

Die Erinnerung hat demnach eine so genannte adaptive Funktion, d.h. sie lässt uns die Gegenwart besser ertragen. Das beweisen unter anderem folgende Untersuchungs-Ergebnisse (die allerdings auch sehr unterschiedlich ausfallen können, je nach Fragestellung, untersuchter Klientel und jeweils dominierender Lebenssituation):

  • Die ständige Aussprache von alten Menschen über ihre persönliche Vergangenheit führt zu einer Stabilisierung ihrer Stimmung, während Gespräche über die Gegenwart oder gar Zukunft oft von Resignation und Niedergeschlagenheit begleitet sind.
  • Umgekehrt muss man zur Kenntnis nehmen, dass vergangenheitsorientierte alte Menschen negativer gestimmt sind als zukunftsorientierte. Das scheint sich auf den ersten Blick zu widersprechen, aber nur auf den ersten. Denn beim Nachdenken zeigt sich folgende Konsequenz:

Zum einen kann die Erinnerung alter Menschen sehr unterschiedlich motiviert sein. Wenn es nur um Versäumnisse, Misserfolge, Demütigungen und Kränkungen geht, dann ist eine solche Rückschau überaus schmerzvoll und von negativen Gemütsregungen begleitet. Wenn die Erinnerung im Alter aber die Position eines realistischen Lebensrückblicks hat (Fachausdruck: evaluativ-bilanzierende Funktion), dann ist sie hilfreich.

Eine solche Bilanz ist - wie schon erwähnt - nicht nur im Alter zu beobachten, sondern auch dann, wenn es bedeutsame Lebenseinschnitte gibt (s. o.). Letztlich entscheidet also über das was war, ist und noch sein wird die persönliche Einstellung.

Damit konnten die Wissenschaftler das bestätigen, was im Grunde jeder ahnt oder aus seiner eigenen Erfahrung weiß:

  • Alte Menschen, die seelisch und körperlich gesund bleiben dürfen (im Rahmen jener Schwankungsbreite, die ein alternder Organismus naturgemäß vorgibt) und die ihrem Ruhestand positiv gegenüberstehen, sind auch eher positiver Stimmung, nach wie vor sozial engagiert und von angepassten Plänen für die Zukunft erfüllt. Sie erinnern sich im Übrigen nicht so ausgeprägt und häufig an die Zeit ihres erwachsenen Lebens, eher an ihre Kindheit, wenngleich offenbar weniger intensiv als die nachfolgenden Gruppen.
  • Alte Menschen, die zwar gesund bleiben dürfen, sich aber nur schwer mit ihrem Ruhestand abfinden, sind schon schlechterer Stimmung, sozial weniger engagiert und kaum mit Zukunftsplänen befasst. Hier nimmt die Erinnerung einen höheren Stellenwert ein, und zwar - interessanterweise - mehr in Bezug auf die jüngere Vergangenheit, d.h. die letzten Jahre und Jahrzehnte und weniger auf die Kindheit fixiert.
  • Die chronisch Kranken sind - erwartungsgemäß - ebenfalls gedrückter, pessimistischer und bisweilen fatalistischer Stimmung, sozial wenig aktiv und letztlich ohne Zukunftsperspektiven. Hier konzentriert sich die Erinnerung vor allem auf die Zeit der Kindheit. Jene chronisch Kranken, die sich zudem noch schwer mit ihrem Ruhestand abfinden können, beschäftigen sich gedanklich vor allem mit ihrer Krankheit und haben insbesondere große Angst, von anderen abhängig zu werden. Sie sind nebenbei am stärksten ihren Kindheits-Erinnerungen verhaftet.

Warum ausgerechnet die Kindheit?

Wenn man sich rückblickend aufbauen will, dann bietet eigentlich die Kindheit - objektiv gesehen - nur wenig konstruktives Erinnerungsmaterial. Interessant und wegweisend, bedeutsam und damit hilfreich ist doch vor allem das Erwachsenenalter, wo Partnerschaft, Familie, Beruf, Freundeskreis, Urlaubserlebnisse u.a. ihren stabilisierenden Beitrag leisten könnten. Das ist - wissenschaftlich gesprochen - die Phase der Selbstverantwortlichkeit und Produktivität im Leben. Das müsste demnach auch der Kern des Erinnerns sein.

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Das Erwachsenenalter ist auch die Phase der größten Beeinträchtigungen, Belastungen, Enttäuschungen, Schicksalsschläge (und zwar weniger vorhersehbar wie im höheren Lebensalter, wo man sich so manches schon von selber ausrechnen kann). Umgekehrt greift für die Kindheit ein Phänomen, das bereits im Titel angedeutet wurde: die Glorifizierung, eine unrealistische, unkritische, selbsttäuschende Überhöhung dieses ersten, zumindest ersten erinnerungsfähigen Lebensabschnitts.

Aus entsprechenden Untersuchungen geht sogar hervor, dass sich rund ein Drittel der befragten Älteren an keine einzige negative Erfahrung aus ihrer Kindheit erinnern konnten. Nun könnte man meinen, Ältere erinnern sich eben grundsätzlich an weiter Zurückliegendes schlechter, und dann verklärt sich das Gesamtbild. Dagegen spricht aber die allseits bekannte und wissenschaftlich objektivierbare Erkenntnis, dass Ältere nicht nur positive, sondern generell mehr Erinnerungen aus ihrer Kindheit wiedergeben als Jüngere. Das heißt, die Erinnerung für diese Zeit ist intakt - und halt verklärt.

Dabei geht es inhaltlich vor allem um positiv erlebte Kindheitserinnerungen im Zusammenhang mit Personen, besonders nahestehenden oder geliebten Menschen. Hier gibt es übrigens ein interessantes Phänomen, bei dem die Glorifizierung dieses Lebensabschnittes sogar über eine der gefürchtetsten seelischen Krankheiten siegt: die Depression.

Man weiß, dass die Stimmung des Depressiven niedergedrückt, trostlos, schwermütig, freudlos und verzweifelt ist. Und alles in Zukunft, Gegenwart und auch Vergangenheit negativ eintrübt, bis hin zu der berüchtigten "schwarzen Brille": Resignation, Pessimismus, Negativismus, Fatalismus. Bei jüngeren Depressiven ist dies auch tatsächlich der Fall, einschließlich der Kindheit. Bei älteren Depressiven erstaunlicherweise nicht. Dort ist zwar auch alles von Hoffnungslosigkeit geprägt, doch die Kindheit macht eine Ausnahme.

Damit wird deutlich, dass sich die Glorifizierung der Kindheit im Alter sogar der ansonsten gemütsmäßig alles "niederwalzenden" Depression erfolgreich widersetzt.

Was steht hinter der Glorifizierung der Kindheit?

Die Frage lautet demnach: Was steht hinter der Glorifizierung der Kindheit in der Erinnerung alter Menschen? Das ist eine Diskussion, die in Wissenschaftskreisen noch nicht abgeschlossen ist. Doch in einem Punkt ist man sich einig:

Das Alter und die Kindheit haben vieles gemeinsam.

Das Bild unserer Zeit und Gesellschaft wird im hohen Maße von den Erwachsenen bestimmt, also der Generation der Erwerbstätigen. Am Rande stehen dabei zwei Gruppen: Kinder und alte Menschen. Während sich die Kinder, die das Leben ohnehin noch vor sich haben, in diesem Punkte nicht artikulieren können, ist das beim alten Menschen anders. Hier war man einmal "dabei" und ist auch jetzt noch intellektuell in der Lage, die Dinge zu übersehen, einzuordnen und zu bewerten.

Doch die Bedingungen werden schlechter: seelisch, geistig, körperlich, psychosozial, vielleicht auch wirtschaftlich. Die Beschwerden nehmen zu und die Zukunft ist begrenzt. Was bleibt, sind die Erinnerungen an eine Zeit der (scheinbaren) Unbeschwertheit und Leichtigkeit. Wenn man dieses Jungsein in seiner Phantasie reaktiviert, indem man diese Bilder und Gefühle wiederbelebt, dann lässt sich auch wieder erlebbar machen, was eigentlich nach den äußeren Bedingungen schon längst verloren ist.

Und selbst konkret auf den Alltag bezogen gibt es eine Parallele zwischen Kindheit und Alter: Kinder wie alte Menschen sind letztlich abhängig von den "Erwachsenen" der mittleren Generation. Dem Noch-nicht-Können von Kindern steht ein Nicht-mehr-Können der Senioren gegenüber. Pflegebedürftigkeit heißt Abhängigkeit. Und damit auch das Bedürfnis (oder die Angst), von wohlwollenden Menschen liebevoll umsorgt zu werden (oder leider nicht).

Auch dies würde erklären, warum gerade die Erinnerung an liebevoll erlebte Personen aus der Kindheit von solcher Bedeutung ist. Denn in der Tat: Es sind vor allem die schon erwähnten schönen Erlebnisse und großartigen, netten, hilfsbereiten und liebevollen Menschen, die in der Erinnerung immer wieder auftauchen.

In der Fachsprache der Psychotherapeuten hört sich dies nebenbei wie folgt an: Dort ist von narzisstischer Kränkung die Rede, wenn es um das drohende Sterben und den nahen Tod geht. Und dass "unreife" Abwehrmechanismen zur Realitätsverleugnung und damit zu einer Idealisierung der Kindheit führen. Es entstehe das Gefühl, dass ein Teil des Selbst verloren oder zerstört ist, ohne die Chance zu sehen, Ersatz zu schaffen. Damit kann es zum Zusammenbruch der Ich-Funktionen und zur pathologischen Regression mit eingeschränkten Fähigkeiten der Realitätsprüfung kommen (zur Erklärung dieser Fachbegriffe siehe das Kapitel über Neurosen einst und heute).

Was kann man, was sollte man tun?

Der wichtigste gesellschafts-relevante und damit auch für den Einzelnen mitentscheidende Aspekt in Bezug auf Altern und Alter ist aber wohl der derzeit herrschende überzogene "Jugendkult". Vielleicht könnte man ihn noch akzeptieren, wenn er durch ein positives Altersbild ergänzt würde. Doch das fehlt völlig. Dass sich dies in letzter Zeit zu ändern beginnt, wäre ein erfreulicher Fortschritt, wenn nicht die Ursachen dieses Einstellungswandels wieder nachdenklich werden ließen, nämlich wirtschaftliche Berechnungen. Man entdeckt die Alten wieder, aber nur als Wirtschaftsfaktor, nicht aus psychosozialer Sicht.

Vielleicht kommt es aber auch gar nicht darauf an, was den Einstellungswechsel anstößt, Hauptsache, es tut sich etwas. Und es sollte sich etwas tun, denn die Zahl der Senioren nimmt zu, und die meisten sind nicht krank und hinfällig, sondern durchaus aktiv. Ein Wunschtraum nebenbei, dem man sich schon "in den besten Jahren" einmal vor Augen halten sollte (und der typischerweise wieder von den USA ausgeht - siehe Kasten).

Altwerden ist "in", die tollsten Leute tun es... (Liz Carpenter).

Und ein weiterer Aspekt gewinnt an Bedeutung, obgleich er natürlich uralt ist: Eine weitgehend vergessene, dabei grundsätzlich positive Ähnlichkeit von Kindheit und (konstruktiv gelebtem) Alter ist die Fähigkeit, die Welt mit Freude, Staunen, ja Verspieltheit und entkrampfender Albernheit zu sehen. Das sind Eigenschaften, die das Leben erleichtern können, im Erwachsenenalter jedoch den dort herrschenden Bedingungen geopfert werden. Denn wer hat noch die Kraft und Zeit zu inhaltsloser Freude, kindlichem (nicht kindischem) Staunen, zu Verspieltheit und vor allem der erwähnten regenerierenden Albernheit (die allerdings eine intellektuelle Mindest-Ausstattung voraussetzt; denn wie sagte schon Heinrich Böll: "Man muss Geist haben, um ihn aufgeben zu können...").

Tatsächlich lässt sich das bei "alten Menschen", die sich gut "gehalten" haben immer wieder feststellen: Das Staunen über selbstverständlich gewordene Dinge, die vielleicht selbstverständlich sind, gleichzeitig aber mehr Beachtung verdienten, als es der "vollbeschäftigte Mensch im mittleren Lebensalter" noch aufzubringen in der Lage ist. Denn das wiederum erleichtert einen anderen hilfreichen Aspekt: Auf dem Hintergrund einer begrenzten Zukunft gewinnt der Augenblick wieder an Bedeutung.

Alter muss also nicht gleichbedeutend sein mit Abbau. Alter beinhaltet immer noch zahlreiche Möglichkeiten für neue Erfahrungen und persönliches Wachstum. Denn wie hieß es schon in der Antike:

Ich altere wohl, aber täglich lerne ich etwas dazu (Solon der Weise, griechischer Staatsmann und Philosoph, um 640 bis 560 vor Christi Geburt).

Allerdings muss jeder für sich selber herauszufinden suchen, was seine (Wachstums-)Bedürfnisse sind. Das ist nicht einfach, besonders nach Jahrzehnten unter beruflichem (und gesellschaftlichem) Druck. Deshalb gilt die Mahnung:

So wie wir uns heute zunehmend bemühen, die authentischen Bedürfnisse von Kindern wahrzunehmen und ihre Umgebung entsprechend zu gestalten, damit sie sich entfalten können, so sollten wir damit beginnen, Vergleichbares auch für alte Menschen zu schaffen (Andrea Fasching).

Eine Möglichkeit nebenbei, sich hier selber (und anderen - s.u.) Gutes zu tun, ist das "Geschichten-Erzählen". Das war früher eine Selbstverständlichkeit, eine der wichtigsten Kontakt-Zugänge von Großmutter oder Großvater zu den Enkeln. Das half beiden Seiten. Für die "dritte Generation" wie erwähnt. Und für die Kleinen hatte es einen hohen Unterhaltungswert - und zwar nicht nur durch die inzwischen dominierenden technischen Medien (Fernsehen, Videospiele), sondern von Mensch zu Mensch. Das sollte man wiederbeleben.

Denn gerade dies ist auch eine der bedeutsamsten pädagogischen Einflussmöglichkeiten: Alte Menschen können auf diese Weise ihre Erfahrungen weitergeben (die nebenbei selbst in Marketing-Kreisen wieder an Bedeutung gewinnen: Nutze die Erfahrungen alter Manager!). Ganz abgesehen von der Möglichkeit zwischenmenschlicher Kontakte, die natürlich auch für den Älteren unerlässlich sind. Wobei die erwähnte Erinnerungsfähigkeit an die eigene Kindheit das Ganze noch lebensnaher und damit lebhafter macht.

Leider ist unsere derzeitige gesellschaftliche Situation für solche Großeltern-Enkel-Kontakte zu beidseitigem Nutzen nicht sehr günstig. Da gibt es die bekannten familien-politischen, sozialen, psychologischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt medien-geleiteten Probleme, Hindernisse, Defizite und Widerstände (z. B.: Kinder, die täglich stundenlang fernsehen, brauchen keine Geschichten ihrer Großeltern mehr, die dann ihrerseits ebenfalls stundenlang fernsehen müssen).

Wie das für die Jugend ausgehen soll, ist eine andere Frage. Wenn aber alte Menschen keine Möglichkeit mehr haben, ihre seelisch entlastenden Geschichten an ihre Enkel weiterzugeben, dann sollen sie das "Geschichten-Erzählen" trotzdem praktizieren - für sich selber. Auch so etwas ist uralt, man nennt es Soliloqui (vom lateinischen: solus = allein und loqui = sprechen). Einzelheiten dazu siehe das spezielle Kapitel in dieser Serie über Psychohygiene.

Auf jeden Fall gilt es die Erinnerung besser zu nutzen, d.h. die Erinnerungsarbeit konsequenter zu trainieren, wozu der alte Mensch besonders geeignet ist., vor allem was seine Kindheit anbelangt. Damit lässt sich auch das Alter leichter ertragen, positiver erleben und konstruktiver gestalten.

Mögen sich die Lebensbedingungen verschlechtern, darauf hat man keinen Einfluss. Die Erinnerungen hingegen, sogar die scheinbar negativen und unkritisch glorifizierten, sie werden uns wieder erleichtern, was das fortschreitende Alter beschwert. Denn wie heißt es so treffend: siehe die nachfolgenden Aphorismen.

Die Erinnerungen im Spiegel alter Volksweisheiten

Das wahre Glück wäre, sich an die Gegenwart zu erinnern (Joles Renard).

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können (Jean Paul).

Was die Welt braucht, ist weniger Belehrung als Erinnerung (Sprichwort aus den USA).

Wer sein Alter verbirgt, schafft seine Erinnerungen ab (Arletty).

So richtig dabei gewesen ist man immer erst in der Erinnerung (Ludwig Marcuse).

Und doch ist die Erinnerung selbst an das Bitterste noch süß (Heinrich von Kleist).

Die Menschen gehen viel zu nachlässig mit ihren Erinnerungen um (Novalis).

Erinnerungen sind Wirklichkeiten im Sonntagsanzug (Oliver Hassencamp).

Für angenehme Erinnerungen muss man im voraus sorgen (Paul Hörbiger).

Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter (Marcel Proust).

Wir werden alt, wenn die Erinnerung uns zu freuen beginnt. Wir sind alt, wenn sie uns schmerzt (Peter Sirius).

Zwei mal lebt, wer in der Erinnerung lebt (Martial).

Erinnerungen: Wärmflaschen für's Herz (Rudolf Fernau).

Erinnerung: größter Luxus der Unglücklichen (Ambrose Bierce).

Erinnern ist eine Form der Begegnung (Khalil Gibran).

Vergessen ist oft schwerer als sich zu erinnern (deutsches Sprichwort).

Literatur

Grundlage vorliegende Ausführungen ist das Kapitel:

Andrea Fasching: Die Glorifizierung der Kindheit in der Erinnerung älterer Menschen. In: H.G. Zapotoczky, P.K. Fischhof (Hrsg.): Psychiatrie der Lebensabschnitte. Springer-Verlag, Wien-New York 2002

Weiterführende Literatur

Böhme, G. (Hrsg.): Kindheit. Über die Relation von Alter und Kindheit. Verlag Schulz-Kirchner, Idstein 1994

Petzhold, H. (Hrsg.): Mit alten Menschen arbeiten. Pfeiffer-Verlag, München 1985

Radebold, H. (Hrsg.): Altern und Psychoanalyse. Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1997

Zapotoczky, H.G., P.K. Fischhof (Hrsg.): Psychiatrie der Lebensabschnitte. Springer-Verlag, Wien-New York 2002

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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