Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
Wie wir uns im Alter verändernNicht alles ist negativ, vieles hat auch seinen kräfte-schonenden Sinn
„Alt werden ohne zu altern„ ist ein legitimer Wunschtraum. Aber alles hat seinen Preis: körperlich, seelisch, psychosozial. Zweifellos steht das seelische Gleichgewicht im Alter in enger Beziehung zu der prämorbiden Persönlichkeitsstruktur, also der Wesensart vor der z. B. alters- oder gar krankheitsbedingten Veränderung. Dazu zählt man nicht nur erbliche, genetisch fixierte Faktoren, sondern den oft als „Schicksal„ apostrophierten sozialen Werdegang. Ferner manche Formen von selbst-provoziertem Fehlverhalten (z. B. Missbrauch von Genussmitteln und Medikamenten, stress-intensive Lebensweise ohne Entlastung u. a.). Vor allem aber die individuelle Einstellung und Lebensart, mit seinem Schicksal fertig zu werden. Denn vorbestehende neurotische Züge (wie man dies einst nannte) erschweren die psychische Anpassung an die zweite Lebenshälfte. So vermögen früher durchaus kompensierte Eigenheiten unter der Belastung des Alters wieder stärker Einfluss zu nehmen. Besonders rigide (starre) und zwanghafte Charaktere können sich schwerer an altersbedingte Veränderungen wie Pensionierung oder Milieu-Wechsel anpassen (früher als Verlustdepression oder gar Umzugsdepression bezeichnet). Das Gleiche gilt für schon zuvor kontaktgestörte und vor allem narzisstische (ich-bezogene, selbstverliebte) Persönlichkeiten, die die Einsamkeit des Alters mit weniger Zuwendung, wenn nicht gar Isolation schlechter ertragen. Und natürlich sind Menschen mit Neigung zu engem Partnerbezug oder Überabhängigkeit dem Verlust von Ehepartner und anderen Bezugspersonen besonders hilflos ausgesetzt und dekompensieren dadurch rascher. Auch bei depressiven Verstimmungen im Alter scheinen sich rigide-zwanghafte sowie überabhängige und asthenische (kraftlose) Persönlichkeitszüge zu häufen. Die körperlichen Folgen des Rückbildungsalters sind vor allem ein Nachlassen von Vitalität (Lebensschwung), Kraft, Ausdauer, Antrieb, Leistungs- und Reaktionsfähigkeit, von Libido und Potenz ganz zu schweigen. Die psychischen Folgen konzentrieren sich besonders auf den Rückgang von Konzentration, Gedächtnis, Lernvermögen und das Nachlassen der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Dazu vermehrte seelische Rigidität (der erwähnte Altersstarrsinn) und das Erlahmen der Umstellungsfähigkeit. Auch größere Vorsicht und Ängstlichkeit gilt es einzuplanen. Und eine Abneigung gegen alles Neue mit dadurch drohender Einengung der Lebensweise. Typisch sind auch ausgeprägtere Ich-Bezogenheit und die Karikierung (also fast lächerliche Verzerrung) gewisser Charakterzüge, die bereits früher auffielen, jedoch weniger störten oder besser kompensiert werden konnten (s. später). Und eine erhöhte psychische Labilität (Unsicherheit, Beeinflussbarkeit) mit Tendenz zu Reizbarkeit, zu Verstimmungen, wenn nicht gar deprimiert-hypochondrischen (krankheits-ängstlichen) Zügen. Auf jeden Fall ist die Alters-Persönlichkeit und ihre spezifischen Reaktionsweisen auf entsprechende Belastungsformen das Ergebnis einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Faktoren: Schicksalsschläge, psychische Narben, Rest- und Folgezustände vorangegangener seelischer und körperlicher Leiden, sie alle tragen zu dem bei, was uns – je nach Einstellung und persönlicher Betroffenheit – beim älteren Menschen stört oder was Bewunderung abverlangt. Und was uns einmal selber droht, und zwar jeden und ohne Ausnahme. Welches sind nun die wichtigsten Symptome (Krankheitszeichen) oder Syndrome (Symptomenkomplexe) im höheren Lebensalter, ohne dass daraus gleich eine Krankheit erwächst? Die wichtigsten seelischen und psychosozialen Beeinträchtigungen im höheren Lebensalter Die meisten seelischen Beeinträchtigungen bis Störungen im höheren Lebensalter gehen auf zerebrale (Gehirn-)Abbauerscheinungen sowohl degenerativer (Zellzerfall) als auch vaskulärer (Gefäß-)Ursachen zurück. Sie ähneln jenen Beschwerdebildern, die man früher als psycho-organisch und damit als hirnorganisches Psychosyndrom bezeichnete, oder kurz: körperliche Beeinträchtigungen äußern sich seelisch und geistig. Dazu zählen wachsende Defizite der intellektuellen Grundleistungen des Gedächtnisses, also der Merkfähigkeit, des Auffassungs- und Konzentrationsvermögens sowie der Aufmerksamkeit, insbesondere auf Dauer und unter Zeitdruck. Mit zunehmendem hirnorganischem Abbau kommt es zur „progressiven Destrukturierung für so genannte höhere integrative Leistungen„ oder allgemeinverständlich: zur Abnahme der Urteils- und Kritikfähigkeit, zur gestörten Orientierung in Raum und Zeit und schließlich gar zur eigenen Person. Peinliche Erinnerungslücken werden durch Konfabulationen ausgefüllt, also mehr oder weniger missglückte sprachliche Situationsangleichungen, die man nicht als „Schwindeleien„ abtun sollte, weil der Betroffene davon unerschütterlich überzeugt ist. Das Denken erstarrt in Stereotypien und Monoideismus, wie die Fachleute sagen, also dem Überwiegen eines bestimmten Gedankenkomplexes, der alle übrigen Denkabläufe in seine Bahn zwingt oder gar abwürgt. Auf affektivem (Gemüts-)Gebiet finden sich ängstliche Unsicherheit und Labilität bis zur völligen Affektinkontinenz, also Weinerlichkeit. Unangenehm bis peinlich ist mitunter auch die „flache Euphorie„, also ein inhaltsloses Wohl-, wenn nicht gar Glückgefühl mit Witzelsucht und Distanzlosigkeit. Feinere Störungen des Persönlichkeitsgefüges zielen auf eine gewisse Nivellierung und Entdifferenzierung (also eine Art Vereinheitlichung auf verflachendem Niveau). Oder auf eine Vergröberung bestehender Charakterzüge sowie die überzogene Steigerung früher mehr oder weniger profilierter Eigenarten. Das heißt auf den Alltag übertragen: Der Vorsichtige wird ängstlich-zurückhaltend, der Sparsame geizig, der Extravertierte schwatzhaft-aufdringlich usw. Dies wird von den Experten, also beispielsweise den Gerontopsychiatern zwar so pauschal nicht akzeptiert, kann aber in verdünnter Form durchaus immer wieder angetroffen werden. Körperlicher Krisenbereich – seelische Starrheit – groteske Ritualisierungen Die typische Neigung zur Somatisierung („Verkörperlichung„) psychischer Störungen führt zu Erweiterung der Leidenspalette über die bereits bestehenden körperlichen Befindensschwankungen hinaus, die ein jedes Leben begleiten, je nach individuellem Schwachpunkt (genetisch Erblast, Unfallfolgen usw.). Da sich das Interesse von der Außenwelt abzuwenden und auf die Intimsphäre einzukreisen beginnt, fällt den ohnehin funktionsgestörten körperlichen Abläufen nun eine verstärkte Beachtung zu. Der Körper wird zum Zentrum, vielleicht sogar zum Krisenbereich, wie dies schon früher während der Pubertät oder später in den Wechseljahren belasten kann. Was fällt am ehesten auf? –Vor allem übertriebene Furchtsamkeit, bis hin zur erhöhten bis lähmenden Vorsicht, –die Neigung zum starren Konservatismus (also auf die Erhaltung von Alt-Hergebrachtem bedacht), –das Festhalten am Gewohnten (was natürlich auch eine Stabilisierung bei schwindendem Kräfte-Potential bedeutet), –die Abneigung gegen alles Neue, verbunden mit der Verherrlichung der „guten alten Zeiten„ (unterstützt durch ein intaktes Altgedächtnis für frühere Geschehnisse bis hin zur Kindheit und gleichzeitig einem oft lückenhaften Frischgedächtnis für aktuelle Ereignisse) –und schließlich eine mehr oder weniger ausgeprägte Ritualisierung („es muss feste Bräuche geben„, in diesem Fall aber allzu unflexibel gehandhabt) Das alles gehört zu den allgegenwärtigen Altersphänomenen, die die gesamte Lebensweise prägen können. Vor allem die Ritualisierung des Alltags kann mitunter fast schon grotesk anmuten, dient aber auch dem erwähnten möglichst ökonomischen (kräfte-sparenden) Einsatz der verbliebenen Reserven und ordnet inhaltlich und rhythmisch den sonst entleerten Tagesablauf. Eine Störung solch starr gefügter Zeitstrukturierungen wird für den älteren Menschen zur erheblichen Mehrbelastung. Hinderlich bis irritierend sind auch –die Tendenz zur fast zwanghaften Starrheit in den persönlichen Ansichten, zu Immobilismus (seelische, geistige, aber auch psychosoziale Unbeweglichkeit) –und zu egozentrischem Verhalten (ich – ich – ich, besonders wenn schon früher selbstbezogene oder gar narzisstische Neigungen nicht zu übersehen waren). Abwehrmechanismen – altersbedingte Persönlichkeitsveränderungen Bei allem aber spielen neben organischen (körperlichen) Belastungen auch psychodynamische Hintergründe eine Rolle, insbesondere die Abwehrmechanismen. Einzelheiten dazu siehe das Kapitel über die Neurosen – einst und heute. Dabei wird klar, dass Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung, Projektion auf andere, Rationalisierung, Sublimierung, Ungeschehenmachen und vor allem die alterstypische Regression (Rückschritt in frühere Entwicklungsstufen mit dem Wiederaufleben infantil (kindlich) anmutender Verhaltensweisen) zur neurotischen Entwicklung generell gehören, gerade aber bei eingeschränkter seelisch-körperlicher Leistungsbreite eine Art „natürliche Schutzfunktion im Alltag des älteren Menschen„ darstellen können. Es werden jedoch nicht nur vorbestehende Schwächen in der Persönlichkeitsstruktur oder seelische Störungen bzw. Krankheiten durch das Alter verschärft, es können auch die Intensität und Durchschlagskraft psychopathologischer (seelisch-krankhafter) Erscheinungen im „dritten Lebensalter„ zurückgehen oder ganz verschwinden. Denn viele Beschwerdebilder werden im Alter blasser, eintöniger, profilloser. Die Störwirkung – kennzeichnendes Merkmal des populären Krankheitsbegriffes: seelisch krank ist wer die anderen belastet, sonst kann nämlich heutzutage jeder weitgehend machen, was er will –, lässt nach. Dies gilt u. a. für ehemals schwer gespannte abnorme Persönlichkeiten (früher auch als Psychopathien, jetzt als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet), für hysterische, hypochondrische, für agitiert-depressive Zustandsbilder, für Zwangsleiden, ja sogar für schizophrene Psychosen mit Sinnesstörungen, Wahn u. a. (Einzelheiten siehe die speziellen Kapitel). Ähnliches kennt man ja auch von Epilepsiekranken, geistiger Behinderung (unruhigen „Schwachsinnigen„), sowie Alkohol-, Medikamenten- und Rauschdrogenabhängigen, denen häufig „zuletzt eine Krankheits-Beruhigung„ attestiert wird. Man altert, wie man gelebt hat… Gesamthaft gesehen ist die Psychopathologie (Lehre von den seelischen Krankheitszeichen) des Alterns ein interessantes Phänomen, das – wenn man objektiv und fair vorzugehen gewillt ist – nicht nur negative Konsequenzen hat. Es gilt nämlich mit schwindenden Reserven auszukommen, und das in eigener Regie und ohne wesentliche Hilfe durch andere (was ohnehin immer weniger wird). Und hier entwickelt der Organismus, und zwar seelisch, geistig und körperlich, seine eigenen Strategien, ob das dem Umfeld gefällt oder nicht. Dabei stimmt zwar schon der Satz: „Man altert, wie man gelebt hat„. Doch es gibt eben auch eine Reihe weiterer Faktoren, die diesen Entwicklungsgang maßgeblich beeinflussen. Dazu gehören im Guten wie im Schlechten ein fundierter/unzureichender Bildungs-, Qualifizierungs- und Informationsstand, die konstruktive oder resignierte Zieleinstellung zum Altern und zum Alter, der sinnvolle oder kräfte-zehrende Wechsel gewohnter Milieuverhältnisse, ertragbare oder ungünstige Arbeits- und Lebensbedingungen, ein angepasster oder belastender Arbeitseinsatz, hilfreiche oder fehlende Ausgleichs- und Erholungsmöglichkeiten, der kontrollierte Einsatz von Genussmitteln und Medikamente bzw. eine gesamthaft „gesunde„ Lebensführung – oder ein selbstzerstörerisches Fehlverhalten in dieser Hinsicht. Und die Frage, ob man sich auf das „dritte Lebensalter„ entsprechend oder nur unzureichend vorbereitet hat. Hier gibt es präventiv (vorsorgend) noch viel zu tun. Dabei stellt der Satz von Solon dem Weisen, griechischer Staatsmann und Dichter vor rund 2.500 Jahren die sinnvollste Lebensschule in einer einzigen Zeile dar, nämlich: „Ich altere wohl, doch täglich lerne ich etwas dazu„. Oder die anrührenden, aber auch psychologisch versiertern Zeilen der Theresia von Ávila, der spanischen Mystikerin, Begründerin des religiösen Ordens der Unbeschuhten Karmeliter sowie einflussreichen Kirchenlehrerin, die vor rund einem halben Jahrtausend betete: „O Herr, du weißt es besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter werde - und eines Tages alt. Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit etwas sagen zu müssen. Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer regeln zu wollen. Lehre mich nachdenklich, aber nicht grüblerisch und hilfreich, aber nicht aufdrängend zu sein. Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit erscheint es mir jammerschade, sie nicht weiterzugeben - aber Du verstehst, o Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte. Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten und verleihe mir Schwingen, zur Pointe zu kommen. Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu - und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr. Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir die Krankheitsschilderungen anderer mit Freude anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen. Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich irren kann. Erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte kein Heiliger sein - mit ihnen lebt es sich so schwer - aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels. Lehre mich, in anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken. Und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe, sie auch lobend zu erwähnen.„ Oder – moderne Version der US-amerikanischen Publizistin Liz Carpenter: „Altwerden ist „in„, die tollsten Leute tun es…„. |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |