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Körperliche Aktivität zur seelischen Stabilisierung

Befindlichkeits-Störungen - Alzheimer-Demenz - depressive Zustände - Panikstörungen - Agoraphobie - schizophrene Psychosen - Suchterkrankungen - u.a.

Tägliche körperliche Aktivität - das sieht zwar jeder ein, aber konsequent nachfolgen tun diesem uralten Ratschlag nur wenige. Vor allem nicht diejenigen, die es am nötigsten hätten. Denn körperliche Aktivität braucht natürlich Initiative, Schwung, Ausdauer, kurz: Kraft. Und wer seine Reserven verloren hat oder zu verschleißen droht, sei es seelisch, geistig, körperlich oder psychosozial, sei es in Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft und vor allem im Berufsleben (und manchmal paradoxerweise auch in der Freizeit), der ist am wenigsten motiviert - und der Teufelskreis setzt ein.

Dies gilt zum einen für die gesund Gebliebenen, wenn auch mit den üblichen tolerierbaren Beeinträchtigungen, dies gilt vor allem für körperlich und insbesondere seelisch Kranke. Was also sollte man sich merken bzw. zumindest wissen, um doch noch die natürlichste (und preiswerteste) Art der Gesund-Erhaltung zu nutzen?

Der Mensch ist eine „sparsame Maschine“; er braucht relativ wenig Nahrung (auf jeden Fall weniger, als wir ihm täglich zuführen), ein gleichbleibendes (und leider ebenfalls oft und vor allem im Alter unterschätztes) Maß an Flüssigkeit - und relativ viel Bewegung. Letzteres bekommt er am wenigsten, das Bewegungsdefizit in unserer Zeit und Gesellschaft ist erschreckend, die Konsequenzen entsprechend bedrohlich.

Dabei sagte schon Hippokrates, der bekannteste antike Arzt vor mehr als 2000 Jahren: „Alle Teile des Körpers, die eine Funktion haben, werden gesund und gut entwickelt und altern langsamer, wenn sie in Maßen gebraucht und durch gewohnte Arbeit geübt werden. Wenn sie hingegen nicht gebraucht werden und träge sind, werden sie anfällig für Krankheiten, bleiben minder­wüchsig und altern vorzeitig“.

Daran hat sich bis heute nichts geändert - außer dass die Bewegungsarmut des größten Teils der Bevölkerung durch die nicht mehr notwendige körperliche Alltags-Arbeit immer ernstere körperliche, ja seelische und nicht zuletzt psychosoziale Folgen nach sich zieht.

Schon vor Jahren stellten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltverband für Sportmedizin (FIMS) fest, dass körperliche Inaktivität einer jener Risikofaktoren sei, der am häufigsten einen vorzeitigen Tod begünstige (1994). Die Todesfälle in Verbindung mit Bewegungsmangel seien etwa in der gleichen Größenordnung zu sehen wie jene, die durch Zigarettenrauchen verursacht werden. Tägliche Bewegung sollte deshalb ein zentraler Faktor eines gesunden Lebensstils sein. Kinder und Jugendliche sollten täglich an Spiel oder organisierten Sportprogrammen teilnehmen können, um daraus eine lebenslange Gewohnheit zu entwickeln. Alle Erwachsenen sollten wenigstens 30 Minuten täglich eine mäßige körperliche Belastung (z. B. schnelles Gehen, Wandern, Treppensteigen) auf sich nehmen. Aus anstrengenderen Aktivitäten (z. B. langsamer Dauerlauf, Radfahren, Schwimmen) könnten zusätzliche gesundheitliche Vorteile resultieren (zit. nach Reimers und Broocks, 2003).

Tatsächlich gilt der vorbeugende und therapeutische Effekt körperlicher Aktivität in Form von Sport und sonstigen Bewegungsübungen nicht nur für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegsleiden, degenerative Verschleißerscheinungen des Haltungs- und Bewegungsapparates, sondern auch für psychosomatisch interpretierbare Befindensschwankungen oder andere seelische Störungen, insbesondere im Gemütsbereich (also Depressionen, Angst­störungen u.a.).

So fühlt sich schon der gesunde Sporttreibende in der Regel nach seiner Aktivität wohler, ruhiger, zugleich aber auch dynamischer. Die Stimmung ist gehoben, Erregungszustände lassen nach, Ärger, Kummer und Frustrationen gehen zurück.

Doch dies betrifft nicht nur den Gesunden. Auch die meisten psychischen Störungen oder Krankheiten sprechen positiv auf körperlich aktivierende Maßnahmen an. Dies wird in psychiatrischen Kliniken schon seit langem systematisch genutzt: Morgengymnastik, Bewegungstherapie, Schwimmen, Wandern, Radfahren, Trimmen, Bewegungsspiele, Reittherapie, Musik-Rhythmik, Tanz usw. (Einzelheiten zu den entsprechenden Heilanzeigen siehe später).

Zwar kommen die einzelnen Studien - je nach Ausgangslage - zu mitunter unterschiedlichen Ergebnissen. Doch scheinen sich folgende Erkenntnis zu bestätigen:

  • Regelmäßige (!) körperliche Aktivität, wozu im bequemsten Falle der tägliche „Gesundmarsch bei Tageslicht“ gehört (entspricht einem „strammen Gehen“ oder „Walking“ - 6 bis 9 km/Stunde, am besten mit zwei gefederten Wanderstöcken als „Nordic Walking“, da die Leistungsausbeute bis zu 50% erhöhend und die Gelenke bis zu 30% schonend) besitzt nachweislich eine antidepressive, angstlösende und entspannende Wirkung.

    Das gilt nicht nur für junge Menschen, sondern auch für die mittleren und höheren Lebensjahre (z. B. ab 40), und zwar für beide Geschlechter (wobei Frauen diese Hilfe häufiger nutzen und auch gewinnbringender einsetzen sollen).
  • Gut dokumentierbar ist ein psychischer Kurzzeit-Effekt von bis zu drei Stunden, der sich nach einiger Zeit zu verflüchtigen beginnt. Die langfristigen psychischen Auswirkungen werden weniger einheitlich beurteilt, doch auch hier sprechen beispielsweise leichtere bis mittelschwere depressive und Angst-Zustände erfreulich positiv an (bei schweren Krankheitsbildern sind die Betroffenen meist nur mühsam zu mobilisieren, was nicht nur auf Unwillen, sondern eine tatsächliche biologische Beeinträchtigung zurückgeht, und zwar zentral von den depressiv biochemisch „ausgebremsten“ Gehirnfunktionen ausgehend).
  • Wer erst später damit beginnt, kann trotzdem noch daraus Nutzen ziehen. Wer später damit aufhört, muss trotz früherer Aktivität mit entsprechenden Beeinträchtigungen rechnen.
  • Ob körperlicher Aktivität eine vorbeugende Wirkung zukommt, was seelische Störungen anbelangt, wird zwar aus biochemischer Sicht in Frage gestellt, aus psychologischer aber befürwortet (Erhaltung der Selbstkontrolle).
  • Am bedeutsamsten sind neben dem täglichen Gesundmarsch Fahrradfahren, Gymnastik, Schwimmen und Gartenarbeit (die bekanntlich einen besonders ausgleichenden emotionalen Effekt hat). Auf jeden Fall empfiehlt es sich - vor allem bei Depressionen, und dies insbesondere im dunklen Winterhalbjahr - das Tageslicht zu nützen. In der dunklen Jahreszeit kann man fast schon von einem vorbeugendem Effekt körperlicher Aktivität auf die Stimmungslage sprechen (siehe auch Lichttherapie, Winter-Depression u.a.).

Nachteile körperlicher Aktivitäten im seelischen Bereich

Allerdings wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass bei einem zu exzessiv betriebenen Ausdauertraining ein gewisses Abhängigkeitsrisiko droht. Dies einerseits biologisch (Endorphine?), andererseits psychologisch (seinen realen Problemen davonlaufen?). Gerade Laufen (und hier insbesondere Jogging) könne auch zum Ersatz für fehlende Lebensinhalte werden. Sport in überzogenem Maße führe zudem zu einer übertriebenen Fixierung auf Fitness und den eigenen Körper.

Wieweit dies zutrifft, bleibt bisher offen (sicher große individuelle Ermessensspielräume). Es gibt aber in der Tat Kontraindikationen (Gegenanzeigen), was Sport bei seelischen Störungen anbelangt: Dies betrifft vor allem die Magersüchtigen mit ihrer typischen Hyperaktivität. Tatsächlich betreiben viele kachektische (extrem abgemagerte) Anorexie-Patienten (wobei besonders das weibliche Geschlecht betroffen ist) Sport in einem Ausmaße, wie er nicht mehr angebracht und auch gesund sein kann. Der einseitige Grund: weitere Kalorien verbrennen um noch magerer zu werden oder das (Unter-)Gewicht zumindest zu halten. Charakteristisch ist im Übrigen auch der durch den Hungerzustand ausgelöste Bewegungsdrang, ein weiterer bedenklicher Faktor. Offensichtlich macht das Laufen aufgrund gehirnbedingter hungerdämpfender und euphorisierender Effekte (inhaltsloses Glücksgefühl) den kachektischen Zustand erträglicher.

So wirkt der Sport also in negativer Weise stabilisierend auf einen ohnehin durch eigenes Zutun bedenklichen Krankheitszustand. Denn Hyperaktivität und Mangelernährung scheinen sich gegenseitig zu verstärken und damit die Entwicklung einer Anorexia nervosa zu begünstigen.

Es gibt aber auch Stimmen, die ein kontrolliertes und gezieltes Bewegungs­programm selbst in der Behandlung von Ess-Störungen mit Untergewicht sinnvoll finden (verbesserte Körperwahrnehmung, Genießen der eigenen Kör­perlichkeit, Akzeptieren weiblicher Attribute).

Ähnliche Diskussionen gibt es bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen, bei denen vereinzelt exzessives körperliches Training beobachtet wird, das fast an autoaggressive Handlungen erinnert (blutig gelaufene Füße). Auch hier kann aber eine sinnvolle körperliche Aktivität zur Reduktion der inneren Anspannung beitragen.

Die wichtigsten psychiatrischen Heilanzeigen körperlicher Aktivität

Zu den wichtigsten Indikationen (Heilanzeigen) körperlicher Aktivität im psychiatrischen Bereich gehören (nach Reimers und Broocks, 2003):

  • Alzheimer-Demenz: Aufgrund der bisher vorliegenden Untersuchungs-Ergebnissen sind es vor allem Patienten mit leichteren kognitiven Störungen (geistigen Beeinträchtigungen), aber auch bereits eindeutigen Alzheimer-Demenz-Hinweisen, die von einem regelmäßigen Ausdauertraining profitieren können. Ähnliches gilt sogar für mittelschwere bis schwere Fälle, dann allerdings eher für vereinfachte Trainingsprogramme, die insbesondere die Koordinationsfähigkeit und Kraft (besonders der Beine) fördern.
  • Depressive Störungen: Hier ist der Erfahrungsstand besser belegt, und zwar eindeutig positiv im Sinne einer antidepressiven Wirkung regelmäßigen körperlichen Trainings, vor allem was Ausdauer-, aber auch Krafttraining anbelangt. Entscheidend sind neben den psychologischen Aspekten insbesondere die durch Sport ausgelösten neurobiologischen Veränderungen.

    Allerdings ist gerade bei depressiven Patienten und ihrem spezifischen Lei­densbild, insbesondere was Antrieb und Ausdauer anbelangt, eine gute Anleitung und kontinuierliche Motivationsarbeit unerlässlich. Der Trainingsaufbau sollte behutsam begonnen, dann aber konsequent durchgehalten werden, um Überforderungs- und Misserfolgs-Erlebnisse zu vermeiden.
  • Panikstörungen und Agoraphobie: Patienten mit Panikattacken oder einer Agoraphobie (krankhafte Furcht vor weiten Plätzen, Alleen, (leeren) Sälen, Sportplätzen, aber auch Tunnels, Tiefgaragen, Fahrstühlen, Super­märkten, Warteschlangen u.a.) neigen im besonderen Maße dazu, körperliche Aktivität aufgrund ihrer unterschiedlichen Befürchtungen zu meiden. So droht schon bald ein Trainingsdefizit für körperliche Alltagsaktivitäten, insbesondere was Herz-Kreislauf und Lungenfunktion anbelangt. Dabei ist nicht nur die organische, sondern auch die gehirn-physiologische Seite zu berücksichtigen (Botenstoffe), von den psychologischen Aspekte ganz zu schweigen: Abbau von Vermeidungsverhalten, verbessertes Selbstbewusstsein, veränderte geistige Verarbeitung von angst-verbundenen Körperempfindungen u.a. Körperliche Aktivität, insbesondere Ausdauertraining ist deshalb im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie unerlässlich und im Übrigen auch besonders erfolgreich (speziell was Panikzustände anbelangt).
  • Schizophrene Psychosen neigen erfahrungsgemäß zu einer stark erhöhten körperlichen Krankheitsanfälligkeit, dazu zu hohem Zigarettenkonsum, unausgewogener Ernährung, kurz zu einer verhängnisvollen Lebensweise und damit - nicht zuletzt durch Herz-Kreislauf-Lungen-Beeinträchtigungen - zu einer reduzierten Lebenserwartung. All das lässt sich jedoch gut steuern, sofern der Patient mitmacht, insbesondere was körperliche Aktivitäten anbelangt. Sollten darüber hinaus noch depressive und Angst-Symptome beeinträchtigen, ist vor allem ein Ausdauertraining segensreich (wobei dazu zwar wenig kontrollierte Studien vorliegen, doch vermitteln die Einzelfall-Hinweise genügend positive Anhaltspunkte).
  • Suchterkrankungen sind ein mehrschichtiges Phänomen, je nach Erkrankungsschwerpunkt: Alkohol, Rauschdrogen, Arzneimittel, Mehrfachabhängigkeit. Sowohl im Entzug als auch in der Prävention ist allerdings regelmäßige körperliche Aktivität ein Grundbestandteil, dem in jeder Klinik Rechnung getragen wird. Auch später kann regelmäßiges körperliches Training maßgeblich zu Abstinenz beitragen, insbesondere im Rahmen eines Gesamt-Behandlungsplans. Inzwischen gibt es auch spezielle bewegungs- und sporttherapeutische Konzepte, und zwar sowohl für den stationären als auch ambulanten Bereich.
  • Weitere psychische Funktionsstörungen, die auf körperliche Aktivität positiv ansprechen, sind die neurotischen, Belastungs- und so genannten somatoformen (körperbezogenen) Störungen. Außerdem neben den Panikattacken und der Agoraphobie die Sozialphobie (also die Angst vor den anderen schlechthin), die spezifischen Phobien (eine Art Rest-Kategorie verbliebener Zwangsbefürchtungen), die Zwangsstörung (also Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, früher auch Zwangsneurose genannt), die akute Belastungsreaktion, die posttraumatische Belastungsstörung u.a.

Zwar gibt es für die meisten dieser Krankheitsbilder bisher keine kontrollierten Studien, doch ist eine bewegungstherapeutische Intervention grundsätzlich günstig, wie man aus Untersuchungen über Panikattacken und Agoraphobie weiß. Dies bezieht sich vor allem auf die Abnahme innerer Anspannung und die Besserung der Grundstimmung. Hier könnte dann nicht nur das Ausdauer-, sondern auch ggf. sogar ein Kraft-Training Berücksichtigung finden.

Schlussfolgerung

Alles Wichtige ist schon gesagt. Es leuchtet auch jedem ein. Wer Gegen-Argumente vorbringt, den schaue man sich genau an. Er möge in seinen speziellen Einwänden Recht haben - aber um welchen Preis.

Deshalb schließt dieser Beitrag auch mit einer treffenden Empfehlung aus der Fabel Reineke Fuchs von J. W. v. Goethe:

Besser laufen als faulen.

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).