Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

DAS HYPERKINETISCHE SYNDROM IM ERWACHSENENALTER

[Download als PDF]

"Zappelphilipp" ruiniert das Leben über Kindheit und Jugend hinaus

Das hyperkinetische Syndrom, wissenschaftlich "Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom bzw. Hyperaktivitätsstörung genannt, im Volksmund als "Zappelphilipp" bekannt, belastet nicht nur die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sondern kann auch die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit bis ins Erwachsenenalter hinein ruinieren. Glücklicherweise gibt es für alle Altersstufen inzwischen medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten, die das Leben wieder in geordnete Bahnen lenken können.

Der "Zappelphilipp" ist ein altes Leiden. Schon sein Erstbeschreiber vor rund 150 Jahren, der Frankfurter Nervenarzt Dr. med. Heinrich Hofmann, soll selber einer gewesen sein. Inzwischen handelt es sich aber um keine seltene Kuriosität mehr, denn man schätzt die Zahl der Betroffenen auf 6 bis 10 %, Knaben drei bis vier Mal so häufig wie Mädchen. Das sind Hunderttausende von Betroffenen und - wenn man die mitunter verzweifelten Eltern und zermürbten Lehrer mit einbezieht - Millionen von ernsthaft Belasteten. Glücklicherweise nimmt der Kenntnisstand und damit die rechtzeitige Diagnose zu. Denn der "Zappelphilipp" in jungen Jahren kann erfolgreich medikamentös behandelt werden, obgleich das noch immer zu kontroversen Diskussionen Anlass gibt (in den angelsächsischen Ländern ist das längst ausgestanden).

Inzwischen kommt aber eine neue Komponente hinzu: Das hyperkinetische Syndrom soll in etwa einem Drittel der Fälle bis ins Erwachsenenalter hineinreichen, ohne dass die Betroffenen ahnen, was bisher Partnerschaft, Familie, Freundeskreis und vor allem berufliche Leistungsfähigkeit so nachhaltig beeinträchtigt hat. Man spricht sogar davon, dass es doppelt bis drei Mal soviel sind, die dann allerdings nicht als hyperkinetisches Syndrom, sondern als dissoziale Persönlichkeitsstörung, in Alkoholkrankheit oder Rauschdrogenmissbrauch enden. Mit anderen Worten: Die rechtzeitige Diagnose und gezielte Therapie im Kindes- und Jugendalter kann auch viel Leid im Erwachsenenalter verhindern helfen.

Beschwerdebild im Erwachsenenalter

Welches sind nun die wichtigsten Symptome, die ein hyperkinetisches Syndrom im Erwachsenenalter charakterisieren können?

- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sind meist nicht mehr so ausgeprägt bzw. folgenschwer wie in Schulzeit, Lehre und Studium. Viele Betroffene haben sich im Laufe ihres oft frustrierenden Lebens weitgehend angepasst. Was aber bleibt, ist die Mühsal, wenn nicht Unfähigkeit, längere Vorträge ruhig und vor allem durchgehend aufmerksam anzuhören, zu speichern und nützlich umzusetzen. Auch die "Lesefaulheit" von selbst überdurchschnittlich Intelligenten kann Ausdruck einer fortlaufenden Teilleistungsstörung sein. So verführt vor allem die Konzentrationsstörung zum "flüchtigen Überlesen" oder auch nur "Überfliegen" der Überschriften und Zusammenfassungen. Selbst konzentriertes und ruhiges Zuhören im Familien- und Freundeskreis fällt schwer, besonders wenn über Probleme anderer diskutiert wird. Nicht selten ist auch das häufige Liegenlassen von Schlüsseln, Taschen, Kleidungsstücken und das Vergessen von Aufträgen, besonders in stressintensiven Situationen.

- Hyperaktivität und Koordinationsprobleme, also Bewegungsstörungen sind auch beim kindlichen und jugendlichen hyperkinetischen Syndrom nicht zwingend, im Erwachsenenalter in der Regel auf jeden Fall diskreter. Was aber auffällt, ist eine ständige unterschwellige Unruhe und Gespanntheit, vor allem wenn man längere Zeit ruhig sitzen bleiben muss. Lästig bis qualvoll wird dies auf längeren Reisen (z. B. Langstreckenflüge) oder bei erzwungener Bettlägerigkeit. Auch sonst sind die Betroffenen oft unfähig, richtig auszuspannen, gehen schneller als andere, wippen häufig mit dem Fuß, trommeln mit den Fingern usw. Auffällig ist eine meist unverändert schwer lesbare und unter Zeitdruck sogar unleserliche Schrift.

- Die ungesteuerte Impulsivität ist im Kindesalter nicht nur belastend, sondern ggf. sogar gefährlich, vor allem bei mangelnder Risikoabschätzung möglicher Gefahren (Straßenverkehr, Sport, Freizeit). Das legt sich im Erwachsenenalter. Was aber immer noch erstaunlich oft irritiert, ist ein unüberlegtes, unvorhersehbares oder gar unberechenbares Verhalten: Losreden, Losrennen, rasches Handeln ohne das notwendige Abschätzen möglicher Gefahren. Das beginnt im reinen Bewegungsbereich und geht bis zu wichtigen psychosozialen Entscheidungen, z. B. Partnerschaft, Beruf u. a. (Nicht wenige Betroffene kommen aus Scheidungsfamilien und lassen sich später selber wieder scheiden, was offenbar nicht nur eine psychologische, sondern auch eine genetische, also erbliche Komponente hat.)

- Die Desorganisation oder populär ausgedrückt: das "ständige Chaos" bleibt am ehesten bis ins Erwachsenenalter bestehen: vom unaufgeräumten Kinderzimmer bis zur vernachlässigten Wohnung, vom unordentlichen Schulranzen bis zum überladenen Schreibtisch, von der nachlässigen Haus- bis zur mangelhaften Dienstaufgabe usw.

- Bezüglich des gestörten Sozialverhaltens pflegt der hyperkinetische Erwachsene am meisten dazuzulernen - notgedrungen. Sonst drohen rasch Ausgrenzung im Freundes- und Bekanntenkreis, Trennung und Scheidung, massive Probleme und Misserfolge im Beruf. Wer allerdings in eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, in Alkohol- oder Rauschdrogenmissbrauch abgleitet, bezahlt in jeder Hinsicht einen besonders hohen Preis.

- Emotionale Störungen sind im Kindesalter beim "Zappelphilipp" besonders häufig: psychisch labil, missgestimmt, leicht reizbar, erregbar oder gar aggressiv, aber auch rasch frustriert, resigniert, deprimiert usw. Das bleibt meist bis ins Erwachsenenalter bestehen. Die "herabgestimmte" Wesensart überwiegt: unzufrieden, lustlos, ständig gelangweilt, gleichgültig, "unglücklich" u. a. Bisweilen wird diese ständige Missstimmung durch gefährliche Aktivitäten neutralisiert: gewagtes Motorrad- und Autofahren, sonstige gefährliche Sportarten, entgleisungsgefährdete Selbstbehandlungsversuche mit Alkohol, Rauschdrogen und vor allem Nikotin (letzteres kann nebenbei zur seelisch-körperlichen Entlastung dieser Patienten beitragen, offenbar biologisch begründet, weshalb viele Hyperkinetiker auch starke Raucher sind und nicht leicht davon loskommen).

Befriedigende Therapieerfolge

Ein Leben unter solch erschwerten Bedingungen ist nicht lustig, zumal der erwachsene Hyperkinetiker mit viel Widerständen zu kämpfen hat, die er zum nicht geringen Teil selber provoziert - krankheitsbedingt. Und da das hyperkinetische Syndrom vererbt werden kann, pflegt sich so mancher Erwachsene an einen vergleichbar belasteten und andere belastenden Elternteil zu erinnern und - noch schlimmer - nicht selten auch an ein eigenes Kind mit diesem Krankheitsbild. Das aber ist oft die Schiene, auf der dann auch Erwachsene in Behandlung kommen: das Kind über Haus- und Kinderarzt zum Kinder- und Jugendpsychiater, der Erwachsene zum Psychiater.

Leider sind Diagnose und Therapie noch nicht Allgemeinwissen. Doch in den USA, in England usw. und zunehmend auch im deutschsprachigen Bereich hat sich inzwischen herumgesprochen: Am erfolgreichsten ist die Kombination aus Psycho- und Soziotherapie zusammen mit bestimmten Medikamenten. Und das sind im Erwachsenenalter vor allem die trizyklischen Antidepressiva Imipramin, Nortriptylin und besonders Desipramin in niedriger Dosierung sowie ggf. einige Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und der einzige bisher verfügbare MAO-A-Hemmer.

Die Erfolge sind durch den meist späten Behandlungsbeginn zwar nicht ganz so durchschlagend wie im Kindes- und Jugendalter mit dem dort meist erfolgreichen Methylphenidat, aber immer noch so, dass Lebensqualität und Leistungsfähigkeit in der Regel spürbar steigen.

Wenigstens ein kleiner Trost nach einem bis dahin oft frustrierenden Leben (Prof. Dr. med. Volker Faust).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).