Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
JAHRESZEIT UND SUIZID Warum bringen sich die meisten Selbstmörder in der schönsten Jahreszeit
um? Hängt die Suizidhäufigkeit von der Jahreszeit
ab? Ja, so die einhellige Meinung: vor allem in den düsteren Spätherbst- und
Wintermonaten. Nein, so die Experten: Am gefährlichsten ist die schönste
Jahreszeit, nämlich später Frühling und Sommerbeginn. Wer das nicht glauben
kann, muss sich von einer fast 200 Jahre alten lückenlosen Statistik aus
aller Welt belehren lassen. Was löst eine solche „paradoxe
Lebensmüdigkeit“ aus? Gibt es sozioökonomische, psychosoziale, genetische,
biochemische oder sonstige Einflussfaktoren? Wahrscheinlich kommt vieles
zusammen, um einen solch letzten Entschluss zu fassen und vor allem konsequent
auszuführen. Und wahrscheinlich gibt es auch soziale Ursachen (die bei jedem
Betroffenen anders ausfallen) und biologische Ursachen (die man noch nicht
kennt). Aber auch eine Erklärung aus psychiatrischer
Sicht, die vielleicht nicht entscheidend, sehr wohl aber den eigenartigen
Zeitpunkt (Schönwetter, schönste Jahreszeit) zumindest miterklären könnte.
Nachfolgend deshalb eine kurze Übersicht zu diesem bedrückenden, aber präventiv
zumindest teilweise beeinflussbaren Phänomen. Erwähnte Fachbegriffe: Suizid – Selbsttötung – Freitod –
Lebensmüdigkeit – Selbstmord – Suizidversuch – Suizidarten – Suizid-Ursachen –
Suizid-Motive – Suizid-Alarmzeichen – Suizid-Risiko – Wetter – Klima –
Medizinmeteorologie – Biometeorologie – Jahreszeit – jahreszeitliche
Suizidhäufung – Suizid-Frühjahrsgipfel – Suizid-Frühsommergipfel –
Suizid-Saisonalität – Suizid und Lufttemperatur – Suizid und Sonnenscheindauer
– Suizid und Sonnenstrahlung – Suizid und psychosoziale Aspekte – Suizid und
sozioökonomische Aspekte – Neurohormone – Testosteron – Östrogen – Kortisol –
L-Tryptophan – Serotonin – Gehirnstoffwechsel – Melatonin – Depression –
Angststörung – Neurose – Schizophrenie – Alkoholismus –
Rauschdrogenabhängigkeit – Depressions-Beschwerdebild – Depression und
Schönwetter – Depression und paradoxe Wetter-Reaktion – Schwermut und
Sonnenschein – Schwermut und Schlechtwetter – Wetterfühligkeit – Wetterabhängigkeit
– Föhn – Kaltfront – Warmfront – Schwüle – Lichtmangel – Lichtmangel-Depression
– saisonale Depression – Winter-Depression – Herbst-Depression – Psychotherapie
– Psychopharmaka – Antidepressiva – Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) – Suizid-Vorbeugung
– „Wetter-Suizidprophylaxe“ – u.a.m. Was gibt es schöneres als den „Wonne- Monat“ Mai und den nicht weniger erfreulichen Juni, den späten Frühling und den „jungen“ Sommer, wo alles blüht, die „linden Lüfte wehen“, die Menschen auch in den kälteren Regionen ihre engen (und oft dunklen) Behausungen verlassen können, ins Freie strömen, kurz: „das Leben beginnt wieder“. Da irritiert es umso mehr, wenn man vom Gegenteil hört: Versuch oder gar vollendeter Tod von eigener Hand, also Suizid, Selbstmord. So etwas kann niemand verstehen, ausgerechnet jetzt. Niemand? Menschen, denen es seelisch nicht gut geht, wahrscheinlich eher. Warum, was spielt sich hier ab, innerlich, äußerlich, biochemisch, psychosozial? Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht ohne bündige Erklärung, denn sie gibt es nicht, noch nicht. Suizid – Selbstmord – Selbsttötung, was ist das?
Der Suizid (vom lateinischen: sua manu caedere = von eigener Hand fallen bzw. gefällt werden), die Selbsttötung, der beschönigende Begriff „Freitod“ (denn mit der Freiheit ist es gerade hier nicht weit her) und das gängige, aber falsche Wort Selbstmord (denn ein Mord im juristischen Sinne liegt nicht vor) ist ein spezifisch menschliches Problem. Nur der Mensch kann seinen eigenen Tod wollen. Selbstzerstörerisches Verhalten wie bei manchen Tierarten (z. B. Lemminge oder Wale), das nicht mir der Vorstellung des Todes verknüpft ist, gilt nicht als Suizid. Die Selbsttötung findet sich überall und zu jeder Zeit. Sie kam auch in primitiven Gesellschaften vor, durchzieht alle Epochen der Geschichte. Wahrscheinlich gibt es kaum einen Menschen, dem noch nie in irgendeiner Form einmal der Gedanke an ein selbstgewähltes Ende gekommen wäre. Allein in der westlichen Welt sollen rund 1.000 Menschen pro Tag Suizid begehen. In Deutschland findet alle Dreiviertel-Stunde ein Lebensmüder seine Erlösung (Tendenz derzeit etwas zurückgehend). Dazu schätzt man zwischen 5 bis 10-mal und mehr soviel Suizidversuche. Einzelheiten zu diesem traurigen Kapitel finden sich in dieser Reihe unter der Rubrik Seelisch Kranke unter uns in zwei Kapiteln, nämlich Selbsttötungsgefahr Teil 1 und 2. – In Teil 1 geht es um Definition, Suizidarten (harte und weiche Methoden), Häufigkeit, Charakteristika von Suizid und Suizidversuch, Altersverteilung, um Mitnahme- oder erweiterten Suizid, um Innen- und Außenfaktoren, d. h. Ursachen (Krankheitsbilder) und Motive (Vereinsamung, Berufs- und Schulprobleme, finanzielle Schwierigkeiten, Schmerzbilder, Strafverfahren, Partner- und sonstige zwischenmenschliche Probleme) u. a. – In Teil 2 geht es um Erkennen und Handeln, falsche Vorstellungen und Irrtümer, Alarmzeichen (was spricht für ein erhöhtes Suizidrisiko?), konkrete Maßnahmen mit dem rechtzeitigen Erkennen, Vorbeugen und Eingreifen u. a. Suizid und Wetter – ein falscher
Ansatz?
Das Wetter ist in aller Munde, im Guten wie im Schlechten. Auch das Klima spielt eine Rolle, obgleich die meisten Menschen diese beiden Phänomene nicht exakt zu trennen pflegen. In wissenschaftlicher Hinsicht aber sind Wetter und Klima von jeher ein interessantes Forschungsgebiet gewesen, das in der Regel aber nur interdisziplinär gemeistert werden kann. Das heißt, dass zu den eigentlichen Wetter-Spezialisten, den Medizinmeteorologen oder (im erweiterten Sinne) den Biometeorologen auch die Experten des jeweiligen Faches mit ihrem Spezialwissen hinzustoßen müssen, um überhaupt den Zugang zu einem Gebiet zu bekommen, das sich als überaus kompliziert erwiesen hat. Im vorliegenden Falle sind das die Psychiater, die den Medizinmeteorologen und Biometeorologen bei der Frage helfen sollten: Ist der Entschluss zu einem Suizid auch von Wetter oder Klima abhängig? Diese Frage hat die Gemüter seit jeher beschäftigt. Die frühesten Untersuchungen bzw. Publikationen dazu liegen aus dem Jahre 1825 vor. Die Korrelation ist einfach: Man vergleicht den Todeszeitpunkt mit Wochentag, Monat, Jahreszeit – und hat auf jeden Fall ein Ergebnis. Es gibt keine Irrtümer. Nur die Frage nach dem „Warum?“ bleibt offen, seit ebenfalls fast 200 Jahren (siehe später). Suizid und Jahreszeit – eine
Übersicht
Was die meteorlogische Einteilung der Jahreszeiten anbelangt, so muss man Folgendes wissen: Das Frühjahr erstreckt sich über die Monate März/April/Mai. Der Sommer umfasst Juni/Juli/August. Der Herbst setzt sich aus September, Oktober und November zusammen. Der Winter sind die Monate Dezember, Januar und Februar. Die Ergebnisse sind – wie erwähnt – eindeutig: Es findet sich eine „Evidenz für eine saisonale Asymmetrie“, wie die Fachleute sich ausdrücken, oder auf deutsch: Es wiederholen sich im immer gleichen, in diesem Fall offenbar „tödlichen Suizid-Monat“ die Suizide, nämlich spätes Frühjahr und Frühsommer oder konkret: Mai (selten auch mal April) und Juni. In einigen Untersuchungen spricht man auch global von Frühjahr, Frühsommer oder Sommerbeginn. Dieser Frühsommer-Gipfel wird auch in aktuellen internationalen Studien und Publikationen bestätigt, natürlich nur für die nördliche Hemisphäre. In der südlichen Erdhalbkugel ist es das entsprechende Gegenstück, nämlich der Dezember. Allerdings finden sich in früheren europäischen Untersuchungen auch Hinweise auf Februar, März, April sowie September, Oktober und November. Noch häufiger aber ist der Hinweis, dass die Selbsttötungen am seltensten im Herbst und Winter zu finden seien. Wie erklärt man sich den
Frühsommer-Gipfel?
Um es gleich vorwegzunehmen:
Eine stichhaltige wissenschaftliche Erklärung steht noch aus. Oder noch
deutlicher: Auch die Medizinmeteorologen sind weitgehend ratlos. Immerhin gibt
es einige interessante Ansätze (Zusammenfassung bei A. Schuh:
Suizidentschluss vom Wetter abhängig? MMW-Fortschr. Med.
25 (2004) 43): So diskutiert man beispielsweise die Überlegung, ob die Suizidhäufigkeit mit dem Tageslicht zusammenhängen könnte. Immerhin sind Mai und Juni die Monate mit der längsten (zumindest theoretischen) Sonnenscheindauer, auf jeden Fall aber mit dem längsten Tageslicht-Angebot. Könnte also die Suizidrate von der Zahl der Sonnenstunden getriggert (Fachbegriff für ausgelöst) werden? Dazu wurden beispielsweise die Daten von 20 OECD-Ländern (davon 18 in der Nordhemisphäre) über einen Zeitraum von 4 bis 24 Jahren geprüft. Das Ergebnis: Ein bemerkenswert durchgängiges Muster dieser beklemmenden Saisonalität mit einem Suizidgipfel im Mai und Juni für die nördliche Hemisphäre und im Dezember für die südliche (was man schon vor bald 100 Jahren feststellt hat). Zusätzlich konnte aber eine interessante Verbindung zwischen der saisonalen Suizidhäufigkeit und der tatsächlichen Sonnenhäufigkeit in den jeweiligen Ländern festgestellt werden. Die Suizidrate steigt in der nördlichen Hemisphäre mit zunehmender Breite an, der Frühsommer-Gipfel bleibt aber erhalten. Ältere Menschen scheinen dabei ein höheres Risiko für klimatische Einflüsse auf die Suizidrate zu haben, wobei sich auch hier eindeutig die Verbindung mit den Sonnenscheinstunden, d. h. schönem Wetter bestätigt. Auch bei Suizidversuchen zeigt sich dieselbe saisonale Verteilung, wiederum vor allem bei über 65-Jährigen. Zudem bestehen bei älteren Männern klare Verbindungen zur Lufttemperatur. Höhere Temperaturen scheinen eher zu Suizidversuchen zu disponieren. Bei Frauen zeigt sich dieser Effekt überraschenderweise nicht. Was hat die Sonnenscheindauer mit
der Suizidalität zu tun?
Über die ursächlichen Zusammenhänge mit den Wetter- und Klima-Faktoren, insbesondere der Sonnenstrahlung wird allerdings noch heftig diskutiert. Liegt ein direkter Einfluss vor, und wenn, welcher? Oder ist die Suizidrate indirekt gesteuert, z. B. durch die zu dieser Jahreszeit veränderten sozioökonomischen und psychosozialen Aspekte (Urlaubszeiten, Feiertage, Schul- und Studienabschlüsse u. a.)? Dieser soziodemographische Aspekt wird unterschiedlich bewertet: Die einen Wissenschaftler können ihn nicht bestätigen und sind der Ansicht, der Frühsommer entwickele unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten im weitesten Sinne keinen Negativ-Einfluss. Andere wollen dies aber so nicht stehen lassen, sie messen äußeren Einflüssen mehr Bedeutung zu, auch wenn hier noch reichlich Forschungsbedarf bestehe, zumindest als belastender Zusatz-Faktor. Nun sind Wetter und Klima ja nur äußere Einflüsse, bedeutsam zwar, wie jeder an sich selber feststellen kann, aber nicht ursächlich angreifend – so meint man auf den ersten Blick. Doch das kann täuschen. Deshalb machen die Wissenschaftler einen Sprung, und zwar von den exogenen (Außen-)Faktoren auf die „innersten“ Reaktionen. Und die sind physiologischer (im Falle seelischer Veränderungen dann auch psycho-physiologischer) und zuletzt biochemischer Natur. Die Ebenen, auf denen man derzeit diskutiert, sind vor allem so genannte Neuro-Hormone (denn es gibt ja nicht nur Geschlechts-Hormone wie Testosteron und Östrogen, sondern auch eine Vielzahl von Neuro-Hormonen, die beispielsweise seelische Aspekte im Zentralen Nervensystem regulieren). Das Hormon, das in klimatischer Hinsicht als Erstes die Diskussion beherrscht, ist das Melatonin. Einzelheiten siehe Kasten. Melatonin ist ein in der Epiphyse (Hirnanhangsdrüse) und auch im Darm produziertes Hormon, dass in einem zirkadianen (Tag-Nacht-)Rhythmus produziert wird, das sein Maximum jeweils in der biologischen Ruhephase (beim Menschen also in der Nacht) hat. Dieser Takt- oder Zeitgeber wird unter anderem durch Lichteinfluss eingehalten, aber auch durch körperliche Aktivität, Nahrungsaufnahme, Stress-Faktoren u. a. Die nächtliche Melatonin-Produktion nimmt ab der Kindheit und vor allem im Alter deutlich ab. Die biologischen Funktionen von Melatonin sind noch immer weitgehend hypothetisch. Das macht auch seine derzeit interessanteste therapeutische Wirkmöglichkeit fraglich, nämlich die „chemisch gesteuerte Schlaffähigkeit“. Relativ gut belegt ist die Wirksamkeit gegen das Jet-lag-Syndrom (also die bekannten Folgen nach einem Flug von Frankfurt nach New York mit entsprechender Zeitverschiebung, weniger dramatisch zurück). Oder – zahlenmäßig noch bedeutsamer – die Schlaf-Wach-Störungen und ihre seelischen und körperlichen Folgen nach Schichtarbeit. Zwar scheint Melatonin bei spontanen Schlafstörungen zu wirken, doch fehlen noch die notwendigen Langzeit-Erkenntnisse. Auch hat sich die frühere Annahme nicht bestätigt, dass Melatonin antidepressiv (stimmungsaufhellend) wirkt. Ähnliches gilt für die natürlich spektakulären Überlegungen zur Frage: Melatonin als „Jungbrunnen“, wie man früher aus Tierexperimenten zu erwarten hoffte – vergeblich. In den USA und anderen Ländern wird Melatonin als Nahrungsmittelzusatz gehandelt. In Deutschland hält man es nicht für so unbedenklich und stuft es deshalb als Arzneimittel ein. Melatonin ist zweifellos ein biologisch hochaktives Hormon, von dem man sich noch allerhand verspricht, aber erst nach ausgiebigen, langfristigen und wissenschaftlich soliden Untersuchungen am Menschen. Könnte ein Mangel an Melatonin die Stimmung bis zur Lebensmüdigkeit verdüstern? Eine Diskussion ist es wert. Doch die Melatoninmangel-Hypothese würde dann allerdings im krassen Widerspruch zu den bekannten Zusammenhängen zwischen der saisonalen Depression und dem dabei erhöhten Melatoninspiegel während der dunklen Jahreszeit stehen (siehe Kasten). Noch ungeklärt ist der Einfluss der Hormone Kortisol, L-Tryptophan und besonders Serotonin. Vor allem Letzteres ist ja der bekannte Stimmungsfaktor im Gehirnstoffwechsel, der bei entsprechendem Defizit mit Depressionen und Angststörungen einhergehen kann und durch entsprechende antidepressive Psychopharmaka wieder ausgeglichen wird, und zwar mit Erfolg (so genannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer - SSRI). Serotonin, das weiß man schon länger, ist ebenfalls sonnen- und temperaturabhängig. Und Untersuchungen von Suizidopfern nach der Tat ergaben in der Tat niedrige Serotoninspiegel. Damit wird vor allem eines klar: Die Ursache des bisher ungeklärten Phänomens „Suizid – Wetter – Klima“ ist auf psychophysiologischer und biochemischer Ebene zu suchen. Eine befriedigende Antwort steht aber noch aus. Bleibt die Frage: Ist das alles oder haben vielleicht die Psychiater noch einen weiteren Erklärungs-Beitrag verfügbar, beispielsweise aus der Psychologie des Alltags? Wetter, Klima und seelische
Krankheit
Leider gibt es nur wenige
Nervenärzte, Psychiater, Ärzte für Psychotherapeutische Medizin und Klinische
Psychologen, die sich mit medizinmeteorologischen oder biometeorologischen
Fragestellungen beschäftigen. Der Einfluss ist zwar „jeden Tag in Klinik und
Praxis zu spüren“ – aber man kommt der Sache ja wissenschaftlich offensichtlich
doch nicht näher. Also ist das Engagement gering und man darf sich nicht
wundern, dass jene wissenschaftlichen und klinischen Disziplinen, die es
eigentlich betrifft, offenbar wenig beizutragen haben. Es gibt allerdings eine psychiatrisch-biometeorologische Studie von vor rund 3 Jahrzehnten aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel und fortgesetzt in der Universitäts-Nervenklinik Freiburg (Volker Faust: Biometeorologie. Der Einfluss von Wetter und Klima auf Gesunde und Kranke. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1976), die zumindest einige interessante Aspekte zum Thema Wetter und psychische Krankheit einschließlich Suizidgefahr besteuern konnte. Einzelheiten finden sich in dieser Internet-Serie unter der Rubrik Seelisch Kranke unter uns mit dem Titel: Wetter, Klima und seelische Krankheit (reagieren Depressive, Neurotiker, Schizophrene, Alkoholiker, Rauschdrogenabhängige u. a. stärker auf Witterungseinflüsse?). Zu den wichtigsten Einflussfaktoren einer Wetterfühligkeit gehören – wie damals bestätigt werden konnte – Lebensalter (je älter, desto heftiger, allerdings leiden schon Kinder und Jugendliche unter Wetterfühligkeit), Geschlecht (Frauen in der Regel ausgeprägter und häufiger als Männer) und vor allem die Gesundheitslage. Bei körperlichen Leiden ist dies auch nachvollziehbar, beginnend mit Angina pectoris bis zum Wurzelreizsyndrom („Hexenschuss“). Bei seelischen Störungen kann man sich das zwar nicht mehr so einfach vorstellen, doch das ist ein Irrtum. Psychisch Kranke sind meteorologisch besonders hart betroffen, wenngleich nicht alle und auch nicht bei jedem Krankheitsbild alle gleich intensiv. Auch hier spielen Alter, Geschlecht und die individuelle Reaktion ein wichtige Rolle. Aber auch das jeweilige seelische Leiden. Was heißt das im Einzelnen? Besonders belastet sind Depressive. Aber auch Patienten mit einer neurotischen Entwicklung (z. B. Angststörung) stellen sich nicht günstiger. Dagegen scheinen schizophren Erkrankte und Suchtkranke im fortgeschrittenen Stadium weniger beeinträchtigt. Das ist allerdings keine beneidenswerter Robustheit, das kann auch die Folge eines langjährigen Krankheitsbildes sein, das nach und nach selbst die Reaktionsfähigkeit auf natürliche Einflüsse wie Wetter und Klima mindert. Nicht ganz so eindeutig sind Rauschdrogenabhängige und Psychopathen (heute als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet) zu beurteilen. Bei der Drogenabhängigkeit muss die zugrunde liegende seelische Störung erfasst, bei den Persönlichkeitsstörungen die jeweilige Form unterschieden werden, die ja ein breites Spektrum einschließt, von der Antisozialen bis zur Zwanghaften Persönlichkeitsstörung. Das ist aber auch nicht entscheidend, wenn man die Ursachen drohender Suizidalität nach statistischer Bedeutung gewichtet. Denn rund zwei Drittel aller Menschen, die Hand an sich legen, leiden unter depressiven Zuständen, also Depressionen als schwermütige Stimmungslage und Krankheitsbild zugleich. Gefährdet sind vor allem biologisch begründbare (früher endogen genannte) Depressive, insbesondere im höheren Lebensalter. Aber auch körperlich ausgelöste (somatogene) Depressionen sind im Auge zu behalten, wiederum verstärkt durch Alter und Dauer des organischen Leidens. Rein phänomenologisch (den äußeren Aspekt betreffend) sind insbesondere maskierte Depressionsformen (auch larvierte Depressionen genannt) riskant, da die zugrunde liegende Depression hinter den körperlichen Krankheitszeichen oft verkannt, versteckt oder falsch interpretiert wird. Auch die erwähnten neurotischen Entwicklungen sind bei den Depressionen zu berücksichtigen, wenn es sich um die (früher so bezeichneten) neurotischen Depressionen oder depressiven Neurosen handeln sollte. Oder kurz: Rein von der Zahl der Betroffenen her gesehen ist vor allem an Depressionen in jeglicher Verlaufsform zu denken, wenn man eine drohende Selbsttötungs-Gefahr möglichst frühzeitig erkennen und verhindern will. Hier macht sich dann nebenbei auch bezahlt, dass die Forschung immer differenzierter vorgeht, d. h. von äußeren Auslösern bis hinauf (oder herunter) auf die biochemische Ebene mit den erwähnten Neurohormonen, beispielsweise dem Neurotransmitter oder Botenstoff Serotonin (der bei der Depression eine große Rolle spielt und durch entsprechende antidepressive Medikamente überaus erfolgreiche Therapieansätze verspricht). Was sagt der Psychiater zum
Suizidgipfel in der schönsten Jahreszeit?
Um zu verstehen, warum so viele Lebensmüde ausgerechnet die offensichtlich wetter- und klimamäßig schönste Zeit des Jahres bevorzugen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, muss man um das Beschwerdebild des Depressiven wissen. Und das setzt sich ganz anders zusammen, als sich die meisten Menschen vorzustellen pflegen. Insbesondere ist es nicht nur Schwermut, sondern eine Vielzahl von seelischen und körperlichen (treffender: psychosomatisch interpretierbaren) Krankheitszeichen, die letztlich das Quälende dieses Leidens ausmacht. Dabei zermürben erstaunlicherweise am meisten jene Symptome, die im Alltag am seltensten mit einer Depression in Verbindung gebracht oder gar als Suizid-Auslöser erkannt werden. Einzelheiten siehe Kasten. Depressives Beschwerdebild*
_______________________________________________________________ Freudlosigkeit: unfähig, sich unbekümmert zu freuen oder überhaupt etwas zu empfinden, ja sogar auf eine freundliche Umgebung oder ein erfreuliches Ereignis positiv zu reagieren, auch genussunfähig, überdrüssig, lustlos u. a. Interesselosigkeit: Einengung des Interessenspektrums, Interessenschwund, schließlich völlige Verarmung und Gleichgültigkeit auf allen Gebieten („fad, leer, öde“). Traurigkeit: verstimmt (besser: „herabgestimmt“), resigniert, unglücklich, bedrückt, niedergeschlagen, trostlos, ja quälend schwermütig bis hin zu Verzweiflungsausbrüchen und Weinkrämpfen; aber auch unfähig zu trauern bzw. zu weinen („tränenlose Trauer“, „glanzlos-stumpfer Blick des Depressiven“). Manchmal liegt auch keine „seelische Schwermut“, sondern eine „leibliche Traurigkeit“ vor, meist im oder am Leib, in Brust-, Magen- oder Kopfgegend lokalisiert. Energielosigkeit: passiv, schwach, kraftlos, leicht und schnell ermüdbar bis erschöpfbar (schon nach kleinen Anstrengungen oder Routinearbeiten), ohne Aktivität, Initiative, Schwung, Antrieb, Spannkraft, Ausdauer, Geduld, schließlich willenlos, welk, matt, ja apathisch, bisweilen regelrecht „versteinert“. Mutlosigkeit: verzagt, ratlos, schwernehmend, leicht irritierbar, pessimistisch, negative Sichtweise („schwarze Brille“). Hilflosigkeit: Überbewertung aller Probleme; Gefühl der Perspektive- und Hoffnungslosigkeit, vor allem Machtlosigkeit, überhaupt etwas zu ändern und damit (selbst-)zerstörerische Lebenseinstellung, fatalistisch, unbeirrbare Suche nach Negativem u. a. Minderwertigkeitsgefühle: allgemeine Unsicherheit, mangelndes Selbstwertgefühl, negative Selbsteinschätzung, Kleinheitsgefühle (dabei aber andererseits überhöhte Selbstanforderung mit unkritischer Selbstüberschätzung und damit Gefahr des programmierten Versagens), Entweder-oder-Mentalität, Selbstunsicherheit, Neigung zur Selbstentwertung, Gefühl von Nutzlosigkeit oder Schuld („Ich bin nichts, ich kann nichts, man mag mich nicht und an allem bin ich selber schuld“). Angstzustände: Gefühl, unerwünscht oder im Wege zu sein, nicht geliebt oder akzeptiert bzw. gar verlassen zu werden, umschriebene Befürchtungen (Phobien) oder unbegründete (motivlose) Ängste bis hin zu Panikattacken. Empfindlichkeit: sensibel, leicht verletzlich, kränkbar, unzufrieden, vorwurfsvoll; Gefühl, nicht verstanden zu werden, zu wenig Zuwendung, Fürsorge oder Liebe zu bekommen, stilles Vor-sich-hin-Leiden oder rasch und unvermittelt mit Verzweiflung reagierend. Reizbarkeit: missmutig, vermehrt irritierbar, scheinbar nur schlecht gelaunt, mürrisch, wenn nicht gar missgünstig, aufbrausend oder gar aggressiv bzw. versteckt oder offen feindselig (z. B. ältere Depressive oder so genannte chronische Depression). Denkstörungen: verlangsamtes, umständliches, zähflüssiges, mühsames, einfallsarmes Denken, das nur um wenige Themen kreist: Ideenarmut, Haftenbleiben, Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, „Leere im Kopf“, unproduktiv, einsilbig, manchmal bis zum irrtümlichen Eindruck eines dementiellen Abbaus („Geistesschwäche“). Reaktionsfähigkeit: verlangsamt, sei es Denkweise, sei es Gespräch, sei es körperlich (musizieren, Sport, Reaktionsgeschwindigkeit im Verkehr u. a.). Entscheidungsunfähigkeit: unschlüssig, wankelmütig, zwiespältig, entschlussunfähig, Hin-und-hergerissen-Sein, alles bis zum Ende durchdenken wollen, ziellos-ängstlich abwägen, fruchtlose Diskussionsansätze, die die eigene Entscheidungsunfähigkeit kaschieren sollen u. a. Grübelneigung: immer die gleichen Denkinhalte bei erschwertem Gedankenwechsel, aber auch Sprunghaftigkeit, nicht am Problem bleiben, nichts zu Ende denken können, Gedankenkreisen, Grübelsucht (vor allem nach dem quälenden Früherwachen). Schuldgefühle: Überbewertung früherer oder aktueller Ereignisse (meist geringfügige oder überhaupt keine Verfehlungen), häufig maßlos überzogen, nicht selten grundlos, schuldhaftes Verarbeiten des krankheitsbedingten Nicht-Könnens oder Versagens, Versündigungsideen, z. T. Selbstanschuldigungen ohne Grund (Partnerschaft, Ehe, Verbote, ja sogar kriminelle Handlungen). Beziehungsstörungen: Rückgang oder Verlust emotionaler Beziehungen und Gefühle zu den anderen („emotionale Entleertheit“) mit nachlassender Schwingungs- und Erlebnisfähigkeit, dabei ängstliches Registrieren dieser zunehmenden Distanz zur Umwelt, bei jedoch ggf. wachsender Anspruchshaltung auf viel Zuwendung und Liebe, z. T. in jammerig-vorwurfsvollem Ton. Innere Leere: Absterben aller Gefühle, Gefühl der Gefühllosigkeit, alles wie leer, benommen, dumpf, ausgebrannt, körperlich traurig, „tot“. * Symptome im Rahmen des psychischen Erscheinungsbildes einer
Depression, die in der Regel am meisten quälen, auch wenn sie der Patient nur selten
selber anführt (muss gezielt erfragt werden) und sich in seinen Klagen eher
auf das depressiv bedingte körperliche (psychosomatische) Beschwerdebild
einengt. Weitere Einzelheiten siehe die verschiedenen Depressions-Kapitel in
dieser Internet-Serie. Darunter sind vor allem die Symptome Freudlosigkeit, Interesselosigkeit, Energielosigkeit, Antriebslosigkeit, Mutlosigkeit, Hilflosigkeit (wegen der immer gleichen Endsilbe wird die Depression auch als -losigkeits-Syndrom bezeichnet) zu verstehen, ergänzt durch Niedergeschlagenheit, Merk- und Konzentrationsstörungen bis hin zur gefürchteten „Leere im Kopf“, durch Minderwertigkeitsgefühle, Angstzustände, Entscheidungsunfähigkeit, das ständige Problem-Grübeln, insbesondere während des qualvollen nächtlichen Wachliegens u. a. Oder kurz, auf den bekannten Satz der Trostlosigkeit reduziert: „Ich bin nichts, ich kann nichts, man mag mich nicht – und an allem bin ich selber schuld“. Tiefer kann man stimmungsmäßig nicht fallen. Man ist am Ende, im wahrsten Sinne des Wortes, zu nichts mehr fähig, ohne jegliche Hoffnung, gleichsam „lebend tot“. Ein solch schrecklicher Zustand braucht bekanntlich viel Kraft, Ausdauer und die Fähigkeit, sich nicht anstecken zu lassen – was das nähere und sogar weitere Umfeld anbelangt. Es gilt zuzuhören, bedingungsfrei zu akzeptieren, ein freundlich-zugewandtes Annehmen und vorbehaltloses Verständnis zu mobilisieren und damit ein ständiges Arbeiten am Aufbau des total am Boden liegenden Lebensgefühls – und sei es in den kleinstmöglichen Schritten. Darüber hinaus empfindet der Depressive seinen trostlosen Zustand gerade dann noch halbwegs erträglich(er), wenn sein Umfeld ebenfalls eher „heruntergebremst“ wirkt. Es ist ja auch bekannt, dass Depressive die schönen Seiten des Lebens nicht nur nicht sehen, geschweige denn genießen können (Vogelgezwitscher, flotte Musik, Blumenpracht, Kinderlachen, Humor, gute Stimmung, heitere Atmosphäre) – das alles tut sogar weh, peinigt, quält, wird auf jeden Fall vermieden oder resigniert, hoffnungslos, gelegentlich auch missgestimmt bis reizbar umgangen oder zurückgewiesen. Dafür entlasten offensichtlich negative Phänomene in jeder Form den zu Freude und Genuss unfähigen Patienten (obgleich er im gesunden Zustand eine durchaus genussfähige Frohnatur sein kann). Beispiele: traurige Gesamtstimmung, schwermütige, zumindest aber getragene Melodien, nostalgische Texte und – jetzt wird auch klar, warum die Statistik so eigenartige Ergebnisse liefert (s. o.) – den alles „Leben vereisenden“ Winter eher als den pulsierenden Sommer oder gar das gefühls-intensive Frühjahr. Und das Gleiche gilt für das Wetter: Schönwetter setzt Depressiven nämlich besonders zu. Diese – allerdings nur scheinbar paradoxe – Reaktion auf Schönwetterlagen ist eine alte Erkenntnis. Bei strahlendem Sonnenschein fühlt sich der Depressive nämlich bedrückter, bei trüben Wetter empfindet er etwas Erleichterung. Warum? Das hat tatsächlich weniger medizinmeteorologische, das hat mehr psychologische Gründe: Ein Depressiver, der von Schwermut und Freudlosigkeit gedrückt zu nichts mehr fähig ist, fühlt sich natürlich noch trostloser, wenn bei Schönwetter alles „jubilierend ins Freie strömt – und man bleibt alleine zurück, melancholisch, unfähig zum Genuss und wahrscheinlich nie mehr gesund werdend“ (Zitat eines Betroffenen, wobei Letzteres natürlich nicht stimmt). Bei schlechtem Wetter hingegen, wo „alle die Flügel hängen lassen“, fühlt sich der Depressive halbwegs unter seinesgleichen. Dann ist man nicht mehr ganz so alleine mit seiner „grauenhaften“ Stimmung und unüberwindbaren Antriebslosigkeit, mit seiner Ratlosigkeit, ja Hilflosigkeit, den Minderwertigkeitsgefühlen und tausend seelisch-körperlichen Beeinträchtigungen, die man am Schluss in seiner Not nicht einmal mehr zuordnen kann („alles gleich furchtbar“). So gesehen lässt sich aus psychiatrischer bzw. psychologischer Sicht eine seit fast 2 Jahrhunderten nachweisbare statistische Erkenntnis zumindest teilweise erklären – einschließlich präventiver Möglichkeiten. Und die heißen: Vorsicht bei Schönwetterlage. Wer hier mit den Maßstäben des Gesunden misst („das muss doch auch Dir Freude bereiten“), begeht einen Fehler, einen unter Umständen tödlichen Fehler. Depressive auch am
wetterfühligsten?
Darüber hinaus halten sich mehr als die Hälfte aller Depressiven für wetterfühlig und klagen an entsprechenden Tagen vor oder während Wetterfronten-Wechsel verstärkt über eine Vielzahl von Symptomen, die sie ohnehin schon im Rahmen ihres seelischen Beschwerdebildes haben, nur jetzt noch verstärkter, noch zermürbender. Beispiele: vegetative Beschwerden (Schweißausbrüche, Appetitlosigkeit), dazu vermehrt Angstzustände, kognitive Einbußen (insbesondere Vergesslichkeit) und eine verstärkte Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit (bei manchmal innerlich durchaus angespannter Unruhe und Getriebenheit). Wetterfühlige Depressive gehören dazu noch zu jenen Patienten, die eine ausgeprägte Vorfühligkeit entwickeln und damit zeitlich noch ausgedehnter zu leiden haben als viele andere Betroffene. Außerdem scheint es, als würde der Depressive unter praktisch allen Witterungseinflüssen leiden, gleichsam unter der geballten Wucht sämtlicher Wetterstörungen, ob in Richtung Wärme (vor allem Föhn) oder Kälte. Besonders schlecht scheint er das schwüle Sommerwetter (also heiß und feucht) zu vertragen, nicht zuletzt bei den früher so genannten endogenen, also biologisch begründbaren Depressionen. Lichtmangeldepression – ein neues
Leiden in unseren Breiten?
Wie aber ist der Widerspruch zu erklären: Zum einen soll es Schönwetter sein, dass den Depressiven in noch tiefere Schwermut stürzt, vielleicht sogar zu einem letzten verhängnisvollen Schritt veranlasst. Zum anderen hört man immer häufiger von einer Lichtmangel-Depression, wegen ihrer jahrezeitlichen Häufung auch Winter-Depression, in Fachkreisen saisonal abhängige Depression genannt. Einzelheiten dazu wiederum in den entsprechenden Beiträgen dieser Internet-Serie (Winterdepression bzw. Wetter, Klima und seelische Krankheit). Eines aber scheint sich dabei
aufzudrängen: Die Winter- (und sogar Herbst-)Depression ist ein interessantes
Phänomen, dem man vor allem psychophysiologisch bzw. biochemisch auf der Spur
ist. Hier wird intensiv geforscht (und auch behandelt, z. B. mit
entsprechenden Lichtgeräten). Die neurochemischen Erklärungen wirken
nachvollziehbar und in absehbarer Zeit wohl auch therapeutisch nutzbar und
hilfreich. Auch handelt es sich hier um
eine mildere Form der Depression, die – statistisch bewiesen – auch keine
ernstere Suizidgefahr nach sich zieht. Das ist ja die erwähnte Erkenntnis, die
schon vor fast 200 Jahren gewonnen wurde: Im Winter, auch wenn es eine
lange trübe Jahreszeit ist, sind Suizide und Suizidversuche seltener.
Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, nämlich wenn nach einem langen
sonnenarmen Winter oder in tiefen Tälern ohne fast halbjährliche
Sonneneinstrahlung durch die tiefstehende Sonne am Ende dieser „trostlosen
Zeit“ gehäuft Suizide zu verzeichnen sind, ein offenbar sowohl biochemisch
(Serotonin?) als auch psychologisch erklärbares Phänomen. Schlussfolgerung
Das Problem des Frühsommer-Suizidgipfels ist jedoch noch nicht biochemisch gelöst. Psychologisch aber ist die (Teil-)Erklärung der Psychiater durchaus plausibel: Ein seelisch, körperlich und psychosozial „auf den Nullpunkt gebremster“ Depressiver mag in der Tat langsam verzweifeln, wenn alles um ihn herum genießt, was ihm nicht nur verwehrt ist, sondern auch noch eine schwer erklärbare Pein verursacht. Hier ist eine Kurzschlusshandlung denkbar, vielleicht sogar nachvollziehbar. „Das Fass ist natürlich schon eine Weile randvoll“, ein letzter Tropfen bringt es dann zum Überlaufen. Schaut man nur auf den Tropfen, wirkt es reichlich unverständlich. Bezieht man allerdings die Gesamt-Konstellation in seine Überlegungen ein, wirkt es schon nicht mehr so absurd. Hier sind es dann auch wieder die Psychiater, die sich mit einer abschließenden Mahnung melden. Mag das von ihnen beigetragene Erklärungsmuster nicht sonderlich imposant erscheinen, zu vernachlässigen ist es nicht. Denn der Arzt gibt sich ja nicht nur mit einer wissenschaftlichen Erkenntnis zufrieden, er will das Ergebnis auch gleich therapeutisch umgesetzt sehen. Und hier vor allem prophylaktisch, vorbeugend. Oder kurz: Vorsicht bei Schönwetter, die bisher vielleicht latente Lebensmüdigkeit eines depressiven Menschen könnte in einen verhängnisvollen Entschluss münden. Denn, wie lauten die zwei Kernsätze: Selbstmörder ist man lange, bevor man Selbstmord begeht. Oder noch eindrücklicher: Selbstmord, das ist die Abwesenheit der anderen. Und in diesem Fall: Gerade bei Schönwetter niemand allein zurücklassen, dem es offensichtlich nicht gut geht. Auch wenn er nicht mit will (natürlich will er nicht mit, er kann es nicht, steht es nicht durch, er will allein bleiben...), man muss ein Auge auf ihn haben. Ein schweres Los, nebenbei nicht nur für den Betroffenen, auch für seine Angehörigen und Freunde. Aber immerhin auch ein hoffentlich rechtzeitiger statistischer Hinweis der Medizinmeteorologen mit konkreter praktischer Schlussfolgerung der Psychiater – um Entsetzliches zu verhüten. |
Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |