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SELBSTVERBRENNUNG

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Feuer-Suizid - warum sich Menschen selber anzünden

Wahrscheinlich gibt es nichts Schaurigeres als den Tod durch eigene Hand: den Suizid. Selbsttötungen sind inzwischen häufiger als tödliche Verkehrsunfälle. Die Zahl der Suizidversuche ist statistisch nicht exakt zu fassen und beträgt ein Vielfaches davon, Tendenz steigend. Die Medizin, vor allem die Psychiatrie und Medizinische Psychologie, aber auch die Gesellschaft, wir alle, stehen diesem Phänomen ratlos gegenüber. Wer schon einmal in seinem Umfeld damit konfrontiert war, weiß um die Hilflosigkeit von Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Mitarbeitern.

Die Betroffenheit ist nicht zu leugnen und kann auch noch durch die Art mancher Suizidmethoden gesteigert werden. Eine der schlimmsten Selbsttötungshandlungen ist die Selbstverbrennung, der selbstgewählte Feuertod. So etwas kommt häufiger vor, als man gemeinhin vermutet, auch wenn es im Rahmen der schockierenden Gesamtzahl (allein in Deutschland bringt sich alle 45 Minuten ein Mensch um, etwa alle 5 Minuten wird es versucht) weniger bedeutsam erscheint. Doch die Folgen sind entsetzlich, selbst wenn man überlebt. Und alle treibt die gleiche Frage um: Dass man seinem Leben ein Ende setzen will, ist schwer fassbar; aber dass man sich einem grausamen Feuertod freiwillig ausliefert, ist völlig unbegreiflich. Und doch geschah es, geschieht es und wird es immer geschehen, weshalb die Experten zu klären versuchen: wie häufig, warum, wer, wann, wo, mit welchen nachträglichen Erklärungen? Und vor allem: was tun, zuerst rein medizinisch und später psychotherapeutisch?

In den USA gibt es einige Studien zu diesem Thema, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Für Deutschland liegt jetzt eine wohl erste Untersuchung vor, wobei dem Autor geradezu wissenschaftlich optimale Bedingungen zur Verfügung stehen, nämlich zum einen ein Brandverletzten-Zentrum und zum anderen seine Arbeit in einer dortigen Spezial-Institution als Psychologe und Theologe. Was hat man rein statistisch herausgefunden, vor allem aber was sind die psychodynamischen Hintergründe und wie muss man damit umzugehen versuchen?



Erwähnte Fachbegriffe:

Selbstverbrennung - Feuer-Suizid - Verbrennungstod - ungewöhnliche Suizidmethoden - Häufigkeit der Selbstverbrennung - Ursachen, Motive, Hintergründe der Selbstverbrennung - Ort und Zeit der Selbstverbrennung - konkrete Selbstverbrennungs-Maßnahmen - Geschlechtsverteilung - Alter - psychologische Hintergründe - psychosoziale Ursachen - psychodynamische Erklärungsversuche - anthropologische Hinweise - therapeutische Möglichkeiten - u. a.

Das Mittelalter erscheint den meisten Menschen als "dunkles Zeitalter". Und wenn man sie fragt, warum, dann lautet oft die erste Antwort: Weil man dort Menschen verbrannt hat, z. B. unschuldige Frauen als Hexen. Wenn etwas verbrennt, dann ist das ein trauriges Geschehen, das finden schon Kinder, zumal wenn Lebewesen zu Schaden kommen. Und dass man mit Vorsatz einen Menschen dem Verbrennungstod ausliefert, das kann man sich heute kaum mehr vorstellen.

Und schier unglaublich wird es, wenn man erfährt, dass sich Menschen selber verbrennen. Es gibt viel Entsetzliches auf dieser Welt, aber die Selbstverbrennung gilt den meisten als regelrecht unfassbar. Und doch ist es nicht so selten, wie man glauben möchte. Dabei hat es ganz bestimmte Hintergründe, jedenfalls wiederholen sie sich immer wieder. Was weiß man darüber?

Nachfolgend deshalb die ausführliche Besprechung des Buches Feuerzeichen - warum Menschen sich anzünden von Christian Braune.

Christian Braune:
FEUERZEICHEN
Warum Menschen sich anzünden

Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005. 159 S., € 17.90.
ISBN 3-525-46224-7

Der Theologe und Psychotherapeut Dr. Christian Braune arbeitet im Zentrum für schwer Brand-Verletzte des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses Hamburg-Boberg. Vor dem Hintergrund jahrelanger klinisch-therapeutischer Erfahrungen geht er den Motiven und lebensgeschichtlichen Ereignissen jener Menschen nach, die sich in Feuer-Suiziden selbst verbrennen wollen. Und vielen von ihnen gelingt es. Was also ist die Bedeutung des Feuerelements als Mittel der Selbsttötung?

Seine Schlussfolgerung: Hinter der psychischen Symbolik des Feuers verbirgt sich sowohl Selbstbestrafung, Buße und Läuterung als auch Streben nach Lebensenergie, Wandlung und Transzendenz, mit der man die irdischen Erfahrungsgrenzen überschreiten und das Übersinnliche zu erfassen versucht.

Warum gerade Feuer?

Von Menschen in Krisen sagt man: Sie haben ein brennendes Problem. Oder: Ihnen brennt es auf den Nägeln. Es besteht also - laut C. Braune - eine inhaltliche Beziehung zwischen Selbsttötung und Suizidmittel. Dieses Verhältnis ist nicht willkürlich, wie er zu Recht betont: Es ist nicht egal, ob sich jemand erschießt, erhängt, ins Wasser oder mit Schlaftabletten in den Wald geht. Die Methode des Selbsttötungsversuches sagt etwas über den Sinn aus, den jemand mit seinem Suizid verbindet. Wer eine Methode bewusst oder unbewusst wählt, will irgendwo hin.

Und dann sollte man auch nicht vergessen, dass sich nicht alle Menschen mit einem Feuer-Suizidversuch im Verborgenen anzündet, nein, es geschieht auch im Garten, oder an der Tankstelle, neben dem Supermarkt, auf dem Marktplatz, in unserer Nähe, in Räumen und an Orten, die wir alle nutzen, an denen wir leben. Und sollte auch der Betreffende weiterleben, dann ist nichts mehr, wie es war, und zwar nicht zuletzt äußerlich: Menschen - so der Mitarbeiter eines Zentrums für schwer Brandverletzte aus täglicher Erfahrung -, Menschen, die sich mit einer brennbaren Flüssigkeit angezündet haben, bleiben ihr Leben lang durch ihre schweren Brandmale gezeichnet: Narben, Spalthaut-Areale und Amputationen und vieles andere mehr erinnern unübersehbar an diese Verzweiflungstat. "Die Folgen eines Suizidversuchs mit Feuer brennen sich in die Haut ein".

Ein Fall wie manch anderer

Es ist 19.00 Uhr. Über die Notrufzentrale der Feuerwehr wird ein Patient auf der Intensivstation des Brandverletzten-Zentrums angekündigt: 30, hat sich vermutlich in suizidaler Absicht mit Benzin übergossen und angezündet.

Da liegt er. Nur noch sein Kopf mit dem Tubus im Mund schaut unter der Spezialdecke hervor. Das, was einmal seine Kleidung war, hängt ihm zusammen mit Hautfetzen vom Leib. Die Kopfhaare sind verschmort und rußig. Das Gesicht ist wie ein Ballon aufgedunsen, die Augen zu Schlitzen zugeschwollen. Die Haut auf Brust, Bauch und den Oberschenkeln ist durch die Gluthitze zu einer einzigen großen Wunde verbrannt. An manchen Stellen ist das Fettgewebe verkocht. Es schimmert weißlich. Die Endglieder der linken Hand sehen wie Vogelkrallen aus: starr und schwarz. Es riecht süßlich und nach verbranntem Fleisch.

Wenn er diese Nacht überlebt, wird er morgen das erste Mal operiert, sagt der diensthabende Chirurg.

Nach C. Braune: Feuerzeichen, 2005 (modifiziert).

Also warum gerade Feuer? Warum eine nicht weniger schmerzhafte und im Überlebensfall weniger folgenschwere Suizidart? C. Braune ging dieser Frage nach und - das sei schon vorweg genommen - konnte keine einheitliche Antwort, keine zwingende Erkenntnis ausfragen, konnte auch nach langen Untersuchungen die Ratlosigkeit mit den Betroffenen selber nicht klären. Warum also? Aber - und das ist das interessante, möglicherweise auch vorbeugend nützliche Ergebnis: Niemand war der Zusammenhang zwischen Suizidversuch und Feuer gleichgültig.

Zuvor aber erst einmal die nüchterne Statistik, soweit bekannt.

Suizid und Suizidversuch in Zahlen

Selbsttötungen werden gerade in Deutschland schon seit langem erforscht. Es gibt eine große Anzahl von wegweisenden Untersuchungen, dicke Fachbücher, Fachzeitschriften, Fachgesellschaften, Forschungsprojekte, spezialisierte Institutionen wie Suizid-Ambulanzen, Tageskliniken, Krisen-Interventionszentren, flächendeckende Telefonseelsorge und anderes mehr. Nur irgendwie beschleicht die Experten ein ungutes Gefühl: In den letzten Jahrzehnten ist so viel in Klinik, Praxis, Forschung und Vorbeugung erreicht worden - doch die Zahl der Suizide und Selbsttötungs-Versuche will und will nicht eindeutig zurückgehen (bei den Verkehrsopfern hat man es erreicht, Suizide sind inzwischen eher häufiger geworden, vor allem wenn man auch die unklaren (vertuschten?) Fälle einbezieht). Denn die Dunkelziffer ist groß und der Verdacht, dass so manches "mysteriöse Geschehen als natürlich" deklariert wird, auch und vor allem von ärztlicher Seite, ist nicht von der Hand zu weisen.

Wie auch immer: Die Statistik kann nur die ungefähre Größenordnung dieses Phänomens wiedergeben. Tragik und individuelle Bedeutung der Selbsttötung entziehen sich ohnehin der rein numerischen Darstellung. Weitere Einzelheiten dazu siehe der ausführliche Beitrag über Suizid und Suizidversuch heute in dieser Serie.

Der Feuer-Suizid in Zahlen

Wie viele der Lebensmüden versuchten sich nun in den vergangenen Jahren durch Feuer das Leben zu nehmen? Auch diese Zahl ist nicht exakt zu beantworten, obgleich es nicht wenige Brandverletzten-Zentren in Deutschland gibt (die in der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin vernetzten Zentren befinden sich in Aachen, Berlin, Bochum, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Halle, Hannover, Hamburg, Koblenz, Köln, Ludwigshafen, Lübeck, München, Murnau, Nürnberg und Stuttgart; die Träger sind in den meisten Fällen die Berufsgenossenschaften mit ihren Schwerpunkt-Krankenhäusern).

Die dort erhobenen - leider nicht vollständig bzw. rechtzeitig an die dafür zuständigen Forscher übermittelten - Daten besagen, dass im Jahr 1997 71 Patienten nach einem Selbst-Verbrennungsversuch behandelt wurden, 1998 93 Patienten und 1999 sowie 2000 jeweils 95.

Rechnet man noch die nicht bekannte Zahl jener Patienten hinzu, die in anderen Krankenhäusern aufgenommen wurden, kann man jährlich von rund 100 Menschen ausgehen, die sich in Deutschland das Leben mit Feuer zu nehmen versuchen. Jeder Dritte von ihnen stirbt an seinen schweren Verletzungen.

Suizid und Suizidversuch haben jedoch - so schaurig sie sich auch als wissenschaftliches Arbeitsgebiet darstellen können - seit über 100 Jahren und nicht zuletzt in Deutschland einen Forschungs-Schwerpunkt: medizinisch, psychiatrisch, psychologisch, ja theologisch und kultur-anthropologisch. In Bezug auf die Selbstverbrennung allerdings gab es in deutscher Sprache bisher keine Untersuchung, ein Defizit, das jetzt durch das Buch von C. Braune über Feuerzeichen behoben sein dürfte. In Amerika gibt es allerdings schon seit dreißig Jahren entsprechende Studien, die sich vor allem auch psychologisch über den Zusammenhang von Selbsttötung, Suizidversuch und Feuer Gedanken gemacht haben. Diese Anstrengungen verdichteten sich in den folgenden Jahren, so dass inzwischen ausreichend Basisdaten über die suizidale Selbstverbrennung vorliegen, wenn auch überwiegend aus dem anglo-amerikanischen Bereich.

Dabei kam heraus, dass der Feuer-Suizid durch praktisch alle jene Motive, Hintergründe und Ursachen ausgelöst werden kann, die auch bei anderen Selbsttötungs-Arten eine Rolle spielen. Das sind vor allem seelische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, manisch-depressive und schizophrene Psychosen, hirnorganische Störungen sowie Missbrauch und Sucht von Alkohol, Rauschdrogen und Medikamenten.

Auslöser ist aber in der Regel eine als traumatisch (seelisch verwundende) erlebte Beziehungs-Krise, vor allem, wenn sie mit einem Trennungs- bzw. Verlusterlebnis einhergeht.

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es allerdings unterschiedliche Ergebnisse und Interpretationen: So berichtete eine Untersuchungsgruppe, dass der Anteil der Patienten mit Feuer-Suizid mit einer hirnorganischen Störung mehr als die Hälfte der erfassten Patienten betrage, nämlich 59%. Etwas weniger vertreten seien Patienten mit einer schizophrenen Psychose (24%) bzw. mit einer endogenen (also biologisch verankerten) Depression (12%). Andere Autoren sehen vor allem die endogene Depression in mehr als der Hälfte belastet, wiederum rund jeder Vierte mit einer Schizophrenie und etwa jeder Zehnte mit einer Persönlichkeitsstörung.

Ein "möglicherweise nur zusätzlicher" Belastungsfaktor soll nach den US-amerikanischen Untersuchungen beim weiblichen Geschlecht die Menopause mit depressiven Verstimmungen und erhöhter Suizidneigung sein. Männer betrifft es vor allem in den mittleren Lebensjahren und hier besonders durch berufliche Krisen. Und in allen Fällen der unsägliche Nachahmungs-Effekt, ja Sog, der praktisch alle spektakulären Selbsttötungen nach sich ziehen kann, und das in praktisch jedem Lebensalter (nicht zuletzt bei Jugendlichen oder gar Kindern).

Die häufigsten Ursachen sind also - je nach Studie in ihrer Position variierend - affektive Störungen, d. h. Depressionen, manisch depressive Erkrankungen, schizophrene Psychosen, hirnorganische Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen.

Verstärkend können sich die Menopause bei der Frau und berufliche Krisen beim Mann auswirken. Und in allen Fällen ein verheerendes Nachahmungs-Verhalten.

Die Frage, ob nicht auch religiöse Vorstellungen, insbesondere der Aspekt der Reinigung bzw. der Wandlung als Motiv der Selbstverbrennung bedeutsam sein könnten, spielt keine übergeordnete Rolle - scheinbar. Diskutiert wurde aber diese Möglichkeit schon vor Jahrzehnten.

Gesamthaft gesehen sind die US-amerikanischen Untersuchungen zwar das bisher wichtigste verfügbare Fundament statistischer Erkenntnisse mit entsprechenden Konsequenzen. Doch die Zahlen sind und bleiben klein, liegen oft schon weit zurück und lassen auch methoden-kritisch keine weitreichenden Schlussfolgerungen zu. Das war übrigens auch den früheren Experten schon bewusst und sie baten deshalb diese wissenschaftlichen Defizite zu berücksichtigen, wenn es um die ethische, philosophische, theologische oder auch rein psychiatrische, psychologische bzw. medizinische Interpretation ihrer Ergebnisse ging.

Selbstverbrennung: Suizidmittel - Ort - Geschlechtsverteilung

In den meisten Fällen verwendeten die Suizidenten leicht entflammbare Flüssigkeiten, also Benzin, Kerosin, Alkohol u. ä. Damit überschütteten sie sich und zündeten sich mit einem Feuerzeug selbst an.

Allerdings gibt es auch andere Methoden, wenngleich deutlich seltener: Stromverletzungen, Verätzungen mit chemischen Substanzen, Entzündung der Kleidung, die Selbstverbrennungsversuche mit brennendem Laub oder das Anzünden des eigenen Hauses.

Die häufigste Art, nämlich die leicht entflammbare Flüssigkeit ist natürlich nahezu überall zugänglich und leicht zu erwerben, auch leicht zu handhaben. In den Augen der Betroffenen gilt sie als sichere Sterbe-Methode (was sie allerdings nicht ist, jedenfalls nicht unter den heutigen Verhältnissen). Wie wir gehört haben, verstirbt ein Drittel aller Feuertod-Suizidenten. Zwei Drittel bleiben verstümmelt und entstellt dem Leben erhalten - wenn auch was für ein Leben.

Als Orte der Selbstverbrennung werden vor allem öffentliche, halb-öffentliche und private Räume genutzt oder missbraucht, wie man will. Die nähere Bedeutung dieser Lokalitäten wurde aber bisher nicht untersucht.

Die Geschlechter-Verteilung ist uneinheitlich. Die einen Untersucher sehen vor allem Frauen, teils leicht, teils deutlich überwiegend, die anderen besonders Männer. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler: Nach den bisherigen Erkenntnissen lassen sich keine sicheren Geschlechts-Schwerpunkte feststellen.

Ein Ergebnis, nur scheinbar am Rande, aber von großer Tragweite, ist der Verdacht, der sich offenbar auch erhärten lässt und der die gesamte Suizidforschung bzw. Vorbeugung und Therapie belastet: Ein Drittel der Patienten mit Selbstverbrennungen unternehmen später einen erneuten Suizidversuch. Das ist schon durch frühere Leitsätze angesprochen worden, die inzwischen wenigstens einen hinreichenden Bekanntheitsgrad erreicht haben, nämlich:

- Selbstmord, das ist die Abwesenheit der anderen
- Selbstmörder ist man lange, bevor man Selbstmord begeht (und das gilt auch für "danach")

Oder konkret: Die Bedeutung von Aufmerksamkeit, Zuhören und damit Kontakt ist größer, als gemeinhin angenommen wird. Man ahnt schon die Bedeutung dieser Erkenntnisse, aber die praktischen Konsequenzen halten sich in Grenzen. Die Realität bzw. die nackte Statistik spricht eine deutliche Sprache.

Selbstverbrennung - eine deutsche Studie

Nachdem Dr. C. Braune in seinen wissenschaftlichen Bemühungen feststellen musste, dass es zwar einige bittere Untersuchungs-Daten aus dem angelsächsischen Bereich gibt, wenngleich wegen der geringen Zahl und auch methodisch begründet recht uneinheitlich, auf jeden Fall aber nicht aus dem eigenen Raum, nämlich Deutschland, bemühte er sich um eine eigene Untersuchung. In den Jahren 1997 bis 2001 wurden im Brandverletzten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses Hamburg-Boberg 53 Patienten nach einem Selbstverbrennungsversuch behandelt. Davon waren 15 Frauen und 38 Männer, also mehr als doppelt soviel. Was heißt das konkret?

Diese 53 Selbst-Verbrennungs-Patienten machten etwa 10% der gesamten Klientel dieses Spezial-Krankenhauses aus. Oder umgekehrt: Jeder zehnte Verbrennungs-Patient einer solchen Spezial-Klinik ist ein Suizident, der einen selbst gewählten Feuertod gewählt hat.

Die Altersverteilung streute breit, nämlich zwischen 20 und 79 Jahren. Der Altersschwerpunkt lag in den mittleren Jahren zwischen 30 und 50.

Das Ausmaß der Verbrennungen II. und III. Grades (s. u.) reichte von 3 bis 98% der gesamten Körperoberfläche. Zehn der 53 Patienten starben (acht Männer, zwei Frauen).

Verbrennungsgrade

- Verbrennungen I. Grades sind am leichtesten. Die verbrannte Haut ist gerötet, schmerzhaft, ausgesprochen berührungsempfindlich und feucht oder geschwollen. Die Hautoberfläche wird bei leichtem Druck deutlich weiß, es gibt keine Blasen.

- Verbrennungen II. Grades haben das Gewebe tiefer geschädigt. Es sind Blasen entstanden. Der Blasengrund kann rot oder weißlich und mit einer klaren, dicklichen Flüssigkeit gefüllt sein. Die Haut ist äußerst berührungsschmerzhaft und wird bei Druck blass.

- Verbrennungen III. Grades gehen am tiefsten. Die Oberfläche kann weiß und nachgiebig oder schwarz, verkohlt und ledrig sein. Da die verbrannten Bereiche blass sein können, kann man sie bei hellhäutigen Menschen irrtümlich für gesunde Haut halten. Die unter der Haut liegenden Gefäße werden bei Druck jedoch nicht weiß. Aufgrund der geschädigten roten Blutzellen kann der verletzte Bereich hellrot aussehen. Gelegentlich bilden sich im Verletzungsbereich Blasen. Die Haare lassen sich leicht aus ihren Follikeln ziehen. Der verbrannte Bereich bleibt bei Berührung meist empfindungslos. Verbrennungen III. Grades schmerzen in der Regel nicht, da die Nervenendigungen in der Haut zerstört sind.

Nach MSD-Manual: Handbuch Gesundheit, 2002

Die meisten übergossen sich mit Benzin oder Spiritus und zündeten sich selbst an. Drei Patienten taten dies in ihrem PKW und fuhren brennend gegen eine Mauer, einen Baum oder eine Holzscheune. Es gab aber auch Patienten, die sich in einen brennenden Laubhaufen setzten, die Gasflasche zur Explosion brachten oder sich gar in die Oberleitung der Bundesbahn warfen (sogenannte Lichtbogen-Verletzungen).

Die seelischen und psychosozialen Ursachen, Motive und Hintergründe

Bei 36 der 43 überlebenden Patienten konnte eine psychiatrische Vorgeschichte erhoben werden. Dabei überwogen die schizo-affektiven Mischpsychosen bei 19 Patienten. Schizo-affektiv heißt sowohl depressiv herabgestimmt oder manisch hochgestimmt und zugleich oder wenigstens kurz hintereinander schizophren erkrankt. Diese Patienten mit Doppel-Belastung leiden bekanntlich ohnehin unter hoher Suizidgefahr.

An zweiter Stelle stehen Patienten mit einer endogenen Depression (Einzelheiten siehe die verschiedenen Kapitel über die Depression einst und heute).

Sieben Patienten litten unter eine paranoid-halluzinatorischen Psychose, also einer Schizophrenie mit Wahn und Sinnestäuschungen (meist Stimmen).

Alkoholmissbrauch war in 17 Fällen Einzel- oder Zusatzdiagnose, Rauschdrogen-Abusus in sechs Fällen Begleiterkrankung.

Fasst man das vielschichtige Problem der Ursachen, Hintergründe und Motive in einigen wenigen Begriffen zusammen, gaben alle überlebenden Patienten tiefgreifende und anhaltende Konflikte mit Menschen an, die ihnen nahe standen. Nicht wenige von ihnen fühlten sich von der Familie im Stich gelassen und kamen mit der Vereinsamung nicht mehr zurecht. Etwa die Hälfte berichtete von Konflikten und Auseinandersetzungen mit Freundinnen/Freunden, Ehepartnern, den eigenen Eltern.

Auch die Selbst-Verbrennung nach Streit mit unmittelbaren Vorgesetzen gibt es, wobei das zentrale Motiv eine Trennung oder ein Beziehungsabbruch war. Jeder Zehnte gab Angst oder Scham wegen einer Haftstrafe an. In einem Fall war es auch Protest gegen eine behördliche Abschiebung.

Selbstverbrennungs-Orte

In der Hälfte der erfassten Fälle war der Selbstverbrennungs-Ort ein öffentlich zugänglicher Raum: Einkaufspassage, Bahnhofsvorplatz, Freifläche vor dem psychiatrischen Krankenhaus, Hotel, Kneipe, Jahrmarktwiese, öffentlicher Park, neben einer Tankstelle, Großparkplatz u. a. Einer verbrannte sich im Vorgarten seiner Ex-Freundin, einer im Treppenflur vor der Wohnung seiner Lebensgefährtin.

Als halböffentliche Räume fanden sich eine Zelle in der Vollzugsanstalt und ein Zimmer im Asylantenheim.

Nur rund ein Drittel verübte seinen Selbsttötungsversuch in der eigenen Wohnung oder in seinem Garten, also im privaten Bereich.

Psychologische Schlussfolgerungen

Der Theologe Dr. C. Braune fasst sowohl seine statistischen Ergebnisse als auch die persönlichen Kontakte zwischen Patient und Psychotherapeut im Rahmen seiner klinischen Aufgaben wie folgt zusammen:

1. Es besteht eine Beziehung zwischen der spezifischen Psychodynamik des Selbstverbrennungsgeschehens und der weitgehend unbewussten Wahl des Tötungsmittels (Psychodynamik: Erklärungsversuch der Psychoanalyse für seelische Erscheinungen aus den dynamischen Beziehungen der einzelnen Persönlichkeitsanteile untereinander).

Diese Wahl ist nicht beliebig oder nicht nur von den Zufälligkeiten und Gelegenheiten des Ortes und der Umstände abhängig. Sie entspricht der mit der Selbsttötungsabsicht verbundenen Zielsetzung des Suizidenten.

Und weiter nach C. Braune: Es geht nicht nur um ein "alles vorbei" und ein "alles egal", sondern um ein "wohin". So erhofft sich der Suizident eine Wandlung seiner unerträglichen Lebenssituation. Er will nicht nur einfach sterben, sondern anders, erträglicher leben. Deshalb enthält selbst der frei gewählte Tod den Impuls einer Katharsis, einer seelischen Läuterung. Es wurde schon früher aus psychoanalytischer Sicht festgestellt, dass die für den Suizid gewählte Todesart nicht beliebig ist, sondern genau zu der seelisch schwächsten Stelle des verzweifelten Menschen passt. Oder:

Die innerlich "brennende Scham" scheint dem äußerlich "verzehrenden Feuer" auf klärende Weise zu entsprechen.

2. Beim Feuer-Suizid wird fast immer (aber auch nicht in jedem Fall!) ein öffentlicher oder zumindest halb öffentlicher Ort gewählt. Fast möchte man meinen, dass die Selbstverbrennung einen Raum braucht, in dem sich die besondere Selbsttötungsform vor den Augen der anderen inszenieren lässt. Das ist umso ungewöhnlicher, weil bei praktisch allen anderen Methoden des Suizids das Gegenteil beobachtet wird.

3. In den meisten Fällen lässt sich tatsächlich eine seelische Erkrankung feststellen, in der Regel aus dem psychotischen Formenkreis (Schizophrenie, endogene Depression, manisch-depressive Erkrankung). Doch nicht jeder Suizidale ist manisch, depressiv oder schizophren. Umgekehrt wird nicht jeder Patient mit einem solchen Leiden suizidal. Es gibt auch Selbsttötungen ohne zumindest offensichtlich seelisch-krankem Hintergrund.

In nicht wenigen Fällen von Selbstverbrennung geht es um Schuld, die gesühnt werden muss oder um ein Vergehen, für das Strafe erwartet wird. Häufig sind Beziehungsabbrüche mit entsprechenden Enttäuschungen und Verunsicherungen des Selbstwertes. Aber auch herabsetzende Erlebnisse im beruflichen Umfeld oder Verstöße gegen ein eigenes Ideal oder ein Gebot der Moral, auf das der "Täter" mit dem Gefühl brennender Scham tiefer Schuld reagiert.

Überhaupt - so C. Braune - finden sich im persönlichen Gespräch zwischen Therapeut und Patient gar nicht selten Begriffe seitens des Lebensmüden, die eine Nähe zum Feuer erkennen lassen: "Sicherung durchgebrannt", "explodiert", "heiß und kalt geworden" usw.

Der Hintergrund des Schuldgefühls und der mit ihm verbundenen Angst vor Bestrafung besteht also oftmals in einer Kränkung, die als Schande erlebt und auf die mit dem Gefühl brennender Scham reagiert wird. Dem kann das ohnehin brüchige und schwach ausgebildete Selbstwertgefühl nicht standhalten. Entsprechend wird der Blick der anderen als begutachtend, vernichtend und entlarvend empfunden. Die Scham vor den anderen entspricht der Scham über sich selber, ausgelöst durch eine herabsetzende, entwertende Erfahrung. Dies ist nach C. Braune der Leiteffekt in der Psychodynamik der Selbstverbrennung.

Mit dem Körper verbrennt auch die Scham

In seinem lesenswerten Buch geht nun der Autor ausführlich auf diese Konstellation ein: Herkunft und Sinn der Scham, wobei er von historischen Überlegungen, insbesondere aus kultur-anthropologischer Sicht bis hin zur besonderen Bedeutung der Haut vorstößt - nicht ohne Grund. Sie ist nicht nur das primäre Sinnesorgan (darüber geben zahlreiche Redewendungen Auskunft), und eines, wenn nicht das frühkindlich wichtigste Kontakt-Bindeglied zur Umwelt, mit allen psychologischen Konsequenzen.

Und sie ist natürlich die Außensicht des Menschen mit vielen bekannten Attributen: gepflegt sowie erotisch, ästhetisch und mit allem, was Kultur und der moderne Markt anzubieten hat angereichert. Doch auch umgekehrt: Die Haut als Ausdrucks-Organ unserer Verlegenheit, unserer Selbstunsicherheit, die blass oder rot werden kann - für alle sichtbar. Oder noch einmal zurück zur Scham, die unsere Haut regelrecht zum Glühen bringt.

C. Braune holt in seinem Beitrag weit und fundiert aus. Damit setzt sein Buch vor allem im zweiten Teil natürlich ein bestimmtes Grundwissen voraus, obgleich es flüssig geschrieben ist. Einzelheiten würden hier zu weit führen, einige bedeutungsvolle Basis-Sätze bzw. -Überlegungen aber sollten noch stichwortartig angeführt werden:

Einleuchtend scheint ihm das Konzept, die Welt in "Schuldkulturen" und "Schamkulturen" zu unterteilen. Denn in der Schamkultur ist nicht ein gutes Gewissen entsprechend der Unschuld der höchste Wert, sondern das Ansehen und der gute Ruf. Das Gesicht zu wahren ist von zentraler Wichtigkeit. Hier geht es um die Polarität von Ehre und Schande, Ruhm und Verachtung, Respekt und Lächerlichkeit, wie er ausführt. Und weiter: Die drängende Scham drängt den Suizidenten zur Veröffentlichung seiner Krise. In einem komplizierten innerseelischen Verfahren werden die bedrängenden Gefühle nach außen, auf die Körperhülle abgeleitet. Damit wird versucht, über die Haut als Nicht-Ich die Scham zu verbrennen und auf diese Weise los zu werden. Oder einfach formuliert: Mit dem Körper verbrennt auch die auf ihn projizierte Scham.

Die Suizid-Experten, z. B. einer ihrer deutschsprachigen Exponenten, Prof. Dr. Hans Wedler, weist in seiner Buchbesprechung in der Fachzeitschrift Suizidprophylaxe 31 (2006) 43 darauf hin, dass dieses "durchweg spannend zu lesende Buch eine - vorher kaum bemerkte - Lücke in der Suizidliteratur aufzeige und auch schließe, und damit auch jene Krisenhelfer bereichere, die bislang niemals suizidalen Verbrennungstätern gegenüber saßen. Wedler bemängelt auch die angesichts des Gesamt-Umfangs und einer Reihe von ausführlich abgehandelten "Neben-Fragen" (Anthropologie des Feuers u. a.) das etwas begrenzte Angebot, was die therapeutischen Möglichkeiten anbelangt. Gleichzeitig aber hat er auch Verständnis für diese Schwerpunkt-Asymmetrie, denn selbst das reichliche Zeit-Kontingent im Rahmen einer stationären "Verbrennungs-Therapie" muss wohl mit der Schwere der zugrunde liegenden Störung verrechnet werden.

Verständnis - so der Autor - ist also (fast) alles; und die Erkenntnis, dass der bekannte Motivations-Zirkel suizidaler Handlungen beim Feuer-Suizid besonders interpretiert werden muss. Dieser Motivations-Zirkel besteht ja bekanntermaßen aus den vier Elementen: Aggression Autoaggression Appell und Flucht (A. Henseler) und müsste für den Verbrennungs-Suizid differenziert werden in Rache Buße und Läuterung Beziehungssuche Transzendenz und Erlösungswunsch.

Und um mit den Worten des Autors C. Braune selber zu enden: "Die Selbstverbrennung ist der Versuch einer Lebensbewältigung, einer Suche nach Sinn, und noch im Scheitern der Kommunikation ist der Wunsch zu erkennen, geachtet und anerkannt leben zu können.

Menschen nach einem Selbstverbrennungsversuch trotz des monströsen Suizidmittels nicht auszugrenzen, sondern ihren Hilferuf aufzunehmen und ihnen zu helfen, lebensdienliche Formen des Umgangs mit den Gefühlen der Scham, der Minderwertigkeit und Kränkung zu finden, also auf Lebensperspektiven hinzuweisen, ist das Ziel dieses Buches".

Die Zahl der Betroffenen mag in Relation zu dem, was uns die Lebensmüdigkeit unserer Mitmenschen zumutet, vernachlässigbar sein. Der einzelne Akt ist es nicht und bringt für die Einbezogenen und Augenzeugen größte Aufregung, ja Schock mit sich. Wie immer bei solch "unangenehmen Phänomenen" in unserer Zeit und Gesellschaft versucht man deshalb möglichst rasch darüber hinweg zu kommen und sieht auch keinen Anlass, sich mit derlei zu belasten.

Man kann aber auch umgekehrt die Frage stellen, ob man nicht einen verstehenden, vielleicht im Einzelfall sogar konkret hilfreichen Beitrag für solche Schicksale leisten kann, wenn man sich zumindest mit den Tiefen und Hintergründen vertraut macht. Vor allem das Wissen um etwas gibt ja auch vorbeugende Möglichkeiten an die Hand. Außerdem verliert selbst das Schaurige an Schrecken, wenn man sich mit der Entstehungsursache vertraut macht.

Gleichwohl: Diese Empfehlung wird nicht jedermanns Zuspruch finden. Wer aber hier seinen Beitrag leisten will, gleichsam im Vorgriff oder gar in der "schönsten Form der Unterstützung", der Prävention, der Vorbeugung, dem sei dieses Buch empfohlen.

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).