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HÖRBEHINDERUNG UND SEELISCHE FOLGEN

Schwerhörigkeit - früh erworbene Hörstörungen - spät erworbene Hörstörungen - Hörsturz - Tinnitus (Ohrgeräusche)

Hörstörungen waren früher ein eher verkanntes und von den Betroffenen verschämt verheimlichtes Leiden. Dies galt vor allem für die Schwerhörigkeit. Inzwischen sind auf diesem Gebiet die technischen Möglichkeiten so perfektioniert worden, dass sich hier der Leidensdruck in Grenzen halten lässt. Dafür nehmen zwei andere Beeinträchtigungen zu, und zwar offensichtlich beängstigend: Hörsturz und Tinnitus (Ohrgeräusche). Sie gehen in der Mehrzahl auf psychosoziale Belastungen zurück und werden - wenn sie sich nicht therapeutisch in den Griff bekommen lassen - zu einer zusätzlichen und oft folgenschweren Beeinträchtigung im Alltag. Was muss man wissen, was kann man tun? Nachfolgend ein etwas ausführlicherer Beitrag zum Thema Hörbehinderung und seelische Folgen.

Erklärte Fachbegriffe: Hörbehinderung - Hörstörungen - Hyperakusis - Geräuschüberempfindlichkeit - Hypakusis - Geräuschunterempfindlichkeit - Schwerhörigkeit - Anakusis - Taubheit - akustische Agnosie - Seelentaubheit - Hörsturz - Tinnitus - Ohrgeräusche - Presbyakusis - psychogene Hörstörung - früh erworbene Hörstörung - spät erworbene Hörstörung - psychosoziale Folgen von Schwerhörigkeit, Tinnitus u.a.

Der Mensch braucht den Gegensatz zwischen Schall und Stille, um seelisch gesund zu bleiben. Das ist vergleichbar mit dem Wechsel zwischen Ein- und Ausatmung. In einem völlig schalltoten Raum drohen nach wenigen Stunden psychotische Reaktionen (wie bei einer Geisteskrankheit), Desorientierung und Verwirrtheit. Stille dagegen ist keine schalltote, sondern eine schallarme Situation, die der Erholung dient.

Klang, Ton, Geräusche, Lärm oder Knall lassen sich zwar physikalisch bestimmen, doch ihre Bedeutung liegt in der jeweiligen Information, die auch emotional (gemütsmäßig) geprägt wird. Lärm wird vor allem subjektiv, d.h. in unterschiedlicher Weise als lästig empfunden. Ab einer gewissen Intensität ist er aber gesundheitsschädlich. Als kurzfristige Einwirkung ab 130 dB, längerfristig ab 85 dB. Dies betrifft sowohl den Arbeitsplatz, als auch die allgegenwärtige und ständig wachsende Lärmbelastung durch Industrialisierung, Straßenverkehr usw.

Ein gutes Beispiel sind die Schlafstörungen durch Lärmeinwirkung. Manche Menschen glauben zwar, dass sie sich (notgedrungen) an einen bestimmten Schallpegel gewöhnen können. Doch führen Straßenverkehr und insbesondere Fluglärm als chronische Lärmbelastung und ständigen Stressfaktor zu erheblichen Beeinträchtigungen.

Lärm führt vor allem zu rascherer Ermüdung, verlangsamter Reaktionsbereitschaft und damit vermehrten Fehlleistungen. Besonders im Kindesalter drohen Störungen der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, ja sogar der sozialen Beziehungen und des Wachstums.

Zwar lassen sich Gehörschutzkappen (im Betrieb), Ohrpfropfen und Gehörschutzwatte (auch zu Hause) nutzen, doch ist das nicht nur eine Beeinträchtigung der Lebensqualität, sondern kann auch bestimmte Missempfindungen auslösen (Gehörgang, subjektiv empfundene Atemenge u.a.).

Welche Hörstörungen gibt es?

Zu den Hörstörungen im weitesten Sinne gehören

- die Hyperakusis: Geräuschüberempfindlichkeit, z.B. bei Überforderungs- und Erschöpfungsreaktionen, bei anlagedingt Nervösen oder Überempfindlichen, durch bestimmte Rauschdrogen, gelegentlich auch bei Schizophrenie u.a.

- die Hypakusis: Geräuschunterempfindlichkeit bzw. Schwerhörigkeit

- die Anakusis: Taubheit

Weitere Formen der Hörbehinderung sind

- die akustische Agnosie, die sogenannte Seelentaubheit

- der Hörsturz

- der Tinnitus, also Ohrgeräusche

- die Presbyakusis, die Schwerhörigkeit im Alter

- die psychogene Hörstörung

Nachfolgend ein komprimierter Überblick zu einem vielschichtigen Thema von wachsender Bedeutung:

Schwerhörigkeit

Die Schwerhörigkeit umfasst eine quantitative Dimension ("geringgradig" bis "an Taubheit grenzend") sowie eine qualitative Dimension (Schalleitungs-, Schallempfindungs- und zentral bedingte Schwerhörigkeit). Ursachen: vielfältige angeborene, krankheits- und verletzungsbedingte Defekte am Hörorgan.

Eine psychogene (rein seelisch ausgelöste) Hörstörung im Sinne einer Schwerhörigkeit ist z.B. die (seltene) hysterische Ertaubung sowie (häufiger) die depressionsbedingte Verminderung des Hörvermögens ohne organischen Befund, verstärkt bei bereits vorliegender Hypakusis (Geräuschunterempfindlichkeit). Siehe auch die entsprechenden Kapitel Hysterie sowie Depressionen.

Man differenziert in

· Früh erworbene Hörstörungen

Die Behinderung des schwerhörigen Kindes wird meist viel zu spät erkannt, oft erst nach jahrelangen untauglichen Erziehungsbemühungen der Eltern ("Unfolgsamkeit", "Trotz"). Gelegentliche ärztliche Fehldiagnosen: Mutismus (Verstummen trotz intakter Sprachorgane) und Autismus (krankhafte Selbstbezogenheit, beim frühkindlichen Autismus vor allem durch eine gestörte Sprachentwicklung auffallend).

Zu achten ist bei früh erworbenen Hörstörungen auf Gehemmtheit, Verschlossenheit, Isolierungsneigung, Zeichen geistiger Entwicklungsverzögerung, schlechte Schulleistungen, verzögertes Sprechenlernen usw.

Früherkennung von Schwerhörigkeit ist eine der wichtigsten Aufgaben der Vorsorgemedizin im frühen Kindesalter.

· Spät erworbene Hörstörungen

Die spät erworbene Hörstörung ist ein "Knick in der Lebenslinie", charakterisiert durch die traumatische Erfahrung (Trauma = hier übertragen als seelische Verwundung) des Verlustes primärer Erlebnis- und Leistungsmöglichkeiten. Besonders schmerzlich ist die Differenz zwischen früherer Normalität und dem plötzlichen Gefühl des Ausgeschlossenseins von der Welt der Hörenden.

In Deutschland gibt es etwa 4 bis 6 Millionen Hörgeschädigte. Meist Schwerhörige höheren Alters, von denen fast eine Million mit Hörgeräten versorgt sind. Etwa jeder 10. Patient (wahrscheinlich mehr), der eine ärztliche Praxis und Klinik aufsucht, ist ein Schwerhöriger.

Wie uns das intakte Hörvermögen im täglichen Alltag hilft

Mit Schwerhörigkeit zu leben, ist für Guthörende fast nicht nachvollziehbar, da wir nicht einfach die Ohren verschließen können, wie das bei den Augen möglich ist. Nachfolgend deshalb einige stichwortartige Aspekte, die die Bedeutung des intakten Hörvermögens für die tägliche Lebensbewältigung verständlich machen sollen:

- Alarmierung durch Schallreize: gehört zur Instinktausstattung und zu den Lernmöglichkeiten vieler niedriger und aller höheren Lebewesen. Wichtig für die Gefahrensicherung und das Überleben im Daseinskampf. Die akustische, also Gehörs-Alarmierung mildert das Überraschungsmoment und verhindert Erschrecken und damit Schreckhaftigkeit.

Die Schreckhaftigkeit ist gerade bei Hörgestörten besonders auffällig und zermürbend: ständig erhöhte Erwartungsspannung, innere Unruhe, gesteigerte Affektbereitschaft und dadurch erschwerte Besonnenheit, Gelassenheit und Entspannungsfähigkeit. Neigung zu Nervosität und psychovegetativen Störungen (fast zwei Drittel aller Hörgeschädigten?).

- Räumliche Orientierungssicherheit: wichtiger Faktor unserer Wahrnehmungsfähigkeit (z.B. bei Blinden viel stärker ausgeprägt als bei Guthörenden).

- Aufmerksamkeitszentrierung: Hören aktiviert und bündelt die Aufmerksamkeit auf viele zweckgerichtete Verhaltensweisen.

- Kommunikationsvoraussetzungen: Hören ist wesentliche Voraussetzung von Spracherwerb und Sprachpflege (Zerfall der Lautsprache bei Ertaubten) und damit Grundlage für das zwischenmenschliche Gespräch und den zwischenmenschlichen Kontakt.

- Emotionaler und sozialer Beziehungsfaktor: Das Ohr ist das "Auge des Gemüts". Beispiele: Was schwingt in der Stimme mit, was kann man aus dem Tonfall des gesprochenen Wortes heraushören? Dem Schwerhörigen fehlt die spontane Selbstverständlichkeit solcher Wahrnehmungen.

Schwerhörigen geht es im Gespräch mit Guthörenden wie einem Ausländer in einer fremdsprachigen Gesprächsrunde: Bis Einzelheiten des Gesprächs dechiffriert (entschlüsselt) werden konnten, hat der Inhalt bereits gewechselt. Die Anstrengung um das Verständnis braucht Zeit und alle Kräfte - und ist doch meist umsonst.

Psychosoziale Folgen der Schwerhörigkeit

Nach Einsetzen der Schwerhörigkeit lässt sich nicht mehr so unbefangen und selbstverständlich leben wie zuvor. Beispiele:

- Verlust des normalen Umweltvertrauens: Vertrauen ist eine wichtige Funktion im menschlichen Leben. Ist es vorhanden, entlastet es von vielen grundlosen Befürchtungen oder überflüssigen Kontrollen, macht das Leben einfacher und berechenbarer. Ist ein normales Umweltvertrauen aber nicht gegeben, dann drohen vielerlei seelische, psychosoziale und sogar körperliche Konsequenzen: Nachfolgend deshalb einige Beispiele krankhafter Vertrauensstörungen:

Ein Wahnkranker (siehe das entsprechende Kapitel über den Wahn), der sich ständig beobachtet, beeinträchtigt und verfolgt fühlt, gerät vom normalen Umweltvertrauen in ein albtraumartiges Dasein. Oder: Der Hypochonder (siehe das Kapitel über Hypochondrie) hat das Vertrauen in seinen eigenen Körper verloren. Kurz: Mangelndes Vertrauen zermürbt den Betroffenen und vergiftet den Alltag durch Zweifel, Misstrauen und Angst.

Die Folge sind Unsicherheit mit sich selber sowie in der Beziehung zur Umwelt, kräftezehrende Empfindsamkeit, ständige Erwartungsspannungen, Minderwertigkeitsgefühle usw.

Das verbreitete Bild vom schwierigen, misstrauischen, empfindlichen, leicht verletzbaren und aufbrausenden Schwerhörigen findet hier seine Erklärung. Ein berühmtes Beispiel ist der Komponist Ludwig van Beethoven, der einmal schrieb: "Oh ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder erkläret, wie Unrecht tut ihr mir! Ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet. Mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens ... Aber bedenket nur, dass seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen von Jahr zu Jahr in der Hoffnung, gebessert zu werden, betrogen ... Mit einem feurigen, lebhaften Temperament geboren, selbst empfänglich für die Zerstreuung der Gesellschaft, musste ich mich früh absondern, einsam mein Leben zubringen. Wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussetzen, oh, wie hart wurde ich zurückgestoßen, und war es mir nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub ..."

- Einsamkeit ist keine Frage von räumlicher Nähe oder Ferne zu Mitmenschen, sondern entwickelt sich aus dem Verlust der inneren Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Schwerhörige werden vor allem dann auf das Gefühl der Einsamkeit gestoßen, wenn sie mit anderen, gut hörenden Menschen zusammen sind (Arbeitsplatz, Stammtisch, Familienfeier): ausgeschlossen aus der Gemeinschaft des Augenblicks.

- Psychovegetative, geistige und psychosoziale Folgen: Schwerhörige leiden verstärkt unter Wetterfühligkeit, insbesondere Kopfdruck, Schlafstörungen, Schwindel, Nervosität, Reizbarkeit, rascher Erschöpfbarkeit, unter Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, depressiven Verstimmungen und erhöhter Suizidgefahr (im Durchschnitt rund 10 Mal häufiger als in der Allgemeinbevölkerung?). Zwei Drittel der Schwerhörigen finden sich in ständiger ärztlicher Behandlung, noch mehr nehmen regelmäßig mindestens ein Medikament (zumeist herz- und kreislaufstützende Präparate, Schmerzmittel, durchblutungsfördernde Substanzen, Psychopharmaka u.a.).

- Soziale Belastungen und Konflikte: Bei Schwerhörigkeit drohen - vor allem am Arbeitsplatz und beim Umgang mit Kollegen - wenig Rücksicht, heimlicher Spott, geistige Abwertung, schließlich Rückzugsneigung und Isolationsgefahr. Ursache: nicht selten "komische", missverständliche, lächerlich erscheinende Situationen, die den Betroffenen schließlich zur "Witzfigur" machen können. Folge: verschlossene, abweisende, "misanthropische" Persönlichkeitsentwicklung (siehe Ludwig van Beethoven).

Früher sprach man sogar vom "Schwerhörigen-Verfolgungswahn" und folgerte: Schwerhörigkeit führt vermehrt zu einer schizophrenen Psychose (siehe diese). Heute weiß man jedoch, dass Schwerhörigkeit zwar einen schizophren Erkrankten genauso belastet wie einen Gesunden, das eine das andere jedoch nicht gehäuft nach sich zieht.

Verhaltensempfehlungen bei schwerhörigen Mitmenschen

Einige Empfehlungen für den Umgang mit schwerhörigen Mitmenschen machen es beiden Seiten leichter. Beispiele:

- Für einen schwerhörigen Mitmenschen immer etwas mehr Zeit als normal einplanen.

- Einem schwerhörigen Menschen stets frontal gegenübersitzen, damit er von den Lippen ablesen kann. Deshalb wichtig: Licht auf dem eigenen Gesicht (nicht mit dem Rücken zum Fenster sitzen). Den Betroffenen nicht von hinten oder aus dem Dunkeln ansprechen.

- Schwerhörige mit Hörgerät leiden unter Nebengeräuschen. Im Gespräch deshalb entsprechende Geräuschquellen abstellen (Fenster und Türen schließen).

- Schwerhörige verstehen nicht nur schwerer, sondern vieles auch anders: Tiefe und hohe Töne der Störung sind meist ungleich betroffen, das gehörte Lautbild ist fast immer verzerrt. Daran ändert auch ein Hörgerät wenig. Dies immer einkalkulieren.

- Stets langsam, deutlich und mit viel Mundbewegungen in knappen Sätzen sprechen. Das Wesentliche gelegentlich wiederholen.

- Immer erst das Gesprächsthema nennen, damit sich der Schwerhörige inhaltlich darauf einstellen kann.

- Die Frage: "Haben Sie mich verstanden?" wird meist - verunsichert, ängstlich oder um Höflichkeit bemüht - bejaht. Deshalb lieber beiläufig eine taktvolle Testfrage stellen oder unauffällig wiederholen.

- Wichtige Informationen lieber schriftlich mitgeben. Nicht allzuviel voraussetzen.

- Selbsthilfemöglichkeiten schwerhöriger Patienten nutzen (Adressen und Termine sind bei den örtlichen Schwerhörigenvereinen zu erfragen).

Es gilt Schwerhörigen nicht nur beizustehen, sondern auch ständig zu ermuntern, zu ihrer Behinderung zu stehen und sie nicht zu verheimlichen. Schwerhörigkeit ist eine unsichtbare Behinderung. Mitmenschliche Rücksicht ist nur dann zu erwarten, wenn man darum bittet. Vor allem soll man einen bejahenden Verzicht auf nicht mehr leistbare Lebensentfaltung fördern oder kurz: sich mit der Behinderung konstruktiv abfinden. Denn:

Wer als Schwerhöriger glaubt, sein Leben wie zuvor weiterführen zu können, zersplittert seine Kräfte und gerät in Überforderung, Erschöpfung, seelische Verwundbarkeit, Verzweiflung und vielleicht sogar "dunkle Gedanken".

Hörsturz

Der Hörsturz ist eine akute (plötzliche) Hörstörung, bei der zuerst organische Ursachen ausgeschlossen werden müssen: z.B. akute Durchblutungsstörungen im Bereich des Innenohrs, Virusinfekte, Autoimmun-Erkrankung (auch als Autoaggressions-Erkrankung bezeichnet, bei denen körpereigene Substanzen das Abwehrsystem schwächen), bevor man an körperliche und vor allem psychische Belastungen ("Stress") denkt.

Der "Hörsturz" hat in den letzten Jahrzehnten rapide zugenommen, wie die Ohrgeräusche (Tinnitus - siehe dieser) auch. Betroffen sind vor allem die sogenannten "besten Jahre", nämlich zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. Es kann aber auch junge und alte Menschen treffen.

Krankheitsbild

Meist klagen die Betroffenen über eine plötzliche, in der Regel einseitig auftretende Hörminderung, nicht selten morgens nach dem Aufwachen. Oft sind damit Völle- oder Druckgefühl und Ohrgeräusche im jeweiligen Ohr verbunden. Häufig gehen diese beiden Beschwerden dem Hörverlust sogar voraus.

Das Tonschwellen-Audiogramm (die graphische Darstellung einer entsprechenden Hörprüfung) zeigt eine Schallempfindungsstörung, meist im mittel- bis hochfrequenten, aber auch niederfrequenten Bereich. Alle anderen HNO-ärztlichen Untersuchungen ergeben in der Regel keinen krankhaften Befund.

Was kann zu einem Hörsturz führen?

Ein Hörsturz kann vielerlei Ursachen haben: Deshalb muss er auch umfassend abgeklärt werden. Was gilt es auszuschließen, bevor man eine seelische oder psychosoziale Ursache annehmen kann?

An erster Stelle Ohrschmalz-Pfröpfe (sehr häufig, besonders nach unsachgemäßer Reinigung des Gehörgangs), ferner Infektionen (z.B. Mumps, Syphilis, Herpes zoster, Hirnhaut- oder gar Gehirnentzündung), Traumen (z.B. Schädel-Hirn-Unfall, Innenohr-Schädigungen, aber auch schädigende Lärmeinwirkung), Durchblutungsstörungen (Embolie = losgelöster Thrombus, d.h. Blutpfropf), ferner Gerinnungsstörungen, Hirnschlag, Gehirnblutungen u.a.) sowie weitere, meist nicht entzündliche Erkrankungen (Multiple Sklerose, medikamentöse Schädigung, Morbus Menière, Autoimmunerkrankungen, Diabetes mellitus, Tumoren im Bereich von Felsenbein, Innenohr, Nerven u.a.).

Wie verläuft ein Hörsturz?

Bei etwa der Hälfte der Fälle bessert sich der Hörsturz innerhalb von Tagen, bei Jüngeren schneller als bei Älteren. Die Heilungsaussichten sind umso besser, je früher eine fachärztliche Behandlung beginnt. Ansonsten stellen sich Hörstörungen im mittelfrequenten Bereich offenbar günstiger, im hochfrequenten ungünstiger.

Welche psychosozialen Aspekte werden diskutiert?

Patienten mit einem Hörsturz sollen eine ganz bestimmte Persönlichkeitsstruktur erkennen lassen. Auf jeden Fall sehen sie sich ständig gemütsmäßigen Anspannungen und nicht selten schwer lösbaren oder zu Erfolglosigkeit verurteilten Lebensaufgaben ausgesetzt (Partnerschaft, Familie, Beruf). Einige provozieren allerdings auch solche Überforderungsreaktionen und belastenden Ereignisse.

Tritt zu einem solchen Dauerstress eine einschneidende Zusatzbelastung hinzu (Unfall, Erkrankung, berufliche oder familiäre Probleme), kommt es zum Hörsturz, auch als "vegetative Detonation" bezeichnet.

Was kann man gegen einen Hörsturz tun?

Entscheidend ist eine umgehend fachärztliche Beratung und damit Diagnose bzw. Differentialdiagnose (welche Ursachen könnten diesen Hörsturz ausgelöst haben - siehe oben). Wichtigster Schritt: Ruhe (raus aus der alltäglichen Belastungssituation, u.U. Bettruhe, notfalls Klinikaufenthalt). Dauer: etwa ein bis zwei Wochen. Meist medikamentöse Therapie zur Verbesserung der Mikrozirkulation (Blutkreislauf im Ohrbereich) und der Fließeigenschaften des Blutes. Ggf. Kortison. Bei krankhaften Veränderungen der Halswirbelsäule (mögliche, aber nicht grundsätzlich entscheidende, da insgesamt sehr häufige (Mit-)Ursache): Physiotherapie.

Die Ruhe und damit Entspannung scheint die wichtigste Unterstützungsmaßnahme zu sein. Parallel dazu oder etwas später die Aufarbeitung der zugrundeliegenden seelischen und psychosozialen Probleme, ggf. suggestive und Hypnose-Verfahren.

Wesentlich für den langfristigen Heilungsverlauf ist eine Gesprächspsychotherapie, und zwar durchaus über den Hörsturz hinaus. Denn viele Betroffene machen - nachdem der "Warnschuss Hörsturz" ausgestanden ist - so weiter wie bisher, mit allen Folgen, vor allem einer Rückfallgefahr. Doch wer mehrere Hörstürze über sich ergehen lassen muss, verbessert nicht gerade seine langfristigen Heilungsaussichten - und zwar nicht nur organisch (HNO-ärztlich), sondern auch seelisch und psychosozial.

Psychogene Hörstörung

Psychogene (rein seelisch bedingte) Hörstörungen sind sehr selten (nur wenige Prozent aller Hörstörungen). Meist handelt es sich um eine überwiegend doppelseitige und symmetrische (!) Schwerhörigkeit mittleren bis hohen Grades, deren seelische Ursache dem Betroffenen nicht bewusst ist (deshalb auch keine Simulation oder bewusste Täuschung darstellt). In Kriegs- und Krisenzeiten können seelisch bedingte Hörstörungen allerdings zunehmen.

Was charakterisiert eine psychogene Hörstörung?

Kennzeichnend ist der Umstand, dass die psychogene Hörstörung vor allem in entsprechenden Situationen (z.B. Untersuchung) auftritt und bei normaler Unterhaltung oder beim Telefongespräch verschwindet. Auch lässt sich in der Vorgeschichte keine entsprechende Ursache feststellen. Lässt man den Betroffenen jedoch ganz allgemein über seine Lebenssituation berichten, häufen sich - neben dem Kummer über die Schwerhörigkeit - nicht selten auch andere Probleme: konkrete Befürchtungen, undefinierbare Ängste, Überforderung, zwischenmenschliche Schwierigkeiten (Partnerschaft, Familie, Beruf) usw.

Die Betroffenen halten sich - im Gegensatz zur erwähnten Simulation - selber für taub oder zumindest schwerhörig. Doch hat auch die psychogene Hörstörung einen Sinn, nämlich das nicht gehört wird, was nicht ertragen werden kann. Auf diese Weise werden (subjektiv) unerträgliche Belastungen verdrängt, gleichsam nicht gehört und damit nicht realisiert. Und man muss bzw. kann dann auch nichts dagegen tun...

Dabei erbringen praktisch alle klassischen Hörprüfungen "krankhafte Befunde", bei aber gleichzeitig unauffälligem Unterhaltungs-Gehör. Beispiel: auffallend pathologisches Tonschwellen-Audiogramm bei gleichzeitig müheloser Unterhaltung mit dem Patienten. Es gibt aber auch Untersuchungsmöglichkeiten, die selbst eine psychogene Hörstörung festzustellen vermögen.

Was kann man gegen eine psychogene Hörstörung tun?

Bei einer psychogenen Hörstörung sollte man nicht versuchen, den Patienten auf seinen unauffälligen Organ-Befund festzunageln. Er simuliert nicht, d.h. er täuscht nicht bewusst etwas vor um irgendwelche Vorteile zu erlangen, er ist in Not, weshalb hier unbewusste Verdrängungsmechanismen den Ablauf bestimmen.

Es gilt also vorsichtig darauf hinzuweisen, dass nicht alle Untersuchungsmethoden einen eindeutig krankhaften Befund ergeben haben. Deshalb empfehlen sich Kontrollen, die wiederum die Möglichkeit des intensiveren Kontaktes bieten, je nach Einzelfall. Dort sollte man sich dann langsam an die seelische (Not-)Lage heranarbeiten, was nicht selten zu einer Entlastung und damit Hör-Verbesserung, wenn nicht gar Genesung führt.

Ansonsten einen Psychotherapeuten hinzuziehen, was sich besonders bei psychogenen Hörstörungen im Kindes- und Jugendalter empfiehlt.

Tinnitus (subjektive Ohrgeräusche)

Tinnitus (aus dem lateinischen: Geklingel) sind Ohrgeräusche, die zwar in letzter Zeit fast explosionsartig zunehmen, in Wirklichkeit aber so alt sind wie die Menschheit.

Zur Geschichte der Ohrgeräusche

Der volkstümliche Aberglaube, dass wenn einem die Ohren klingeln jemand über einen (Gutes oder Schlechtes) spricht, war schon den Assyrern und Ägyptern im 1. Jahrtausend vor Christi bekannt, wurde später bei den Griechen und Römern und im Mittelalter von dem berühmten Arzt Paracelsus beschrieben.

Auch der Zusammenhang zwischen Stress oder konkreter Angst und Tinnitus lässt sich schon im Alten Testament nachlesen (Jer 19,3: Seht, ich bringe solches Unheil über diesen Ort, dass jedem, der davon hört, die Ohren klirren).

Ob das auch für die berühmten Männer der Zeitgeschichte gilt, die von Tinnitus geplagt sein sollen (Luther, Rousseau, Beethoven, Smetana, van Gogh usw.), ist unbekannt. Schwer beeinträchtigt dürften sie gewesen sein, insbesondere die Komponisten, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Wie äußert sich ein Tinnitus?

Tinnitus ist nicht nur ein Ohrgeklingel, wie der lateinische Name sagt (das ist sogar eher selten - siehe unten), Tinnitus sind vielfältige Ohrgeräusche im Sinne von Pfeifen (vier von zehn Betroffenen), Rauschen (jeder Vierte), Summen (jeder Zehnte) sowie Zischen, Klingeln, Piepsen, Sausen, Brummen, Zirpen oder gar Pulsieren und Hämmern (in abnehmender Häufigkeit).

Was kann Ohrgeräusche auslösen?

Die Medizin bzw. die Hals-Nasen-Ohren (HNO)-Heilkunde kennt eine Vielzahl von Ursachen, die Ohrgeräusche auslösen können. Beispiele:

- Gehörgangsverschluss durch Fremdkörper oder einen Ohrschmalz-Pfropfen
- entzündliche Mittelohr-Erkrankungen
- Trommelfellperforation (Trommelfelldefekt durch Riss oder punktförmige Durchlöcherung), Mittelohrtrauma
- Verkalkung der entsprechenden Gefäße
- erblich, degenerativ oder vergiftungsbedingte Schwerhörigkeit
- Alters-Schwerhörigkeit
- Knalltrauma (lärmbedingte Gehörstörung)
- chronische Lärm-Schwerhörigkeit
- Morbus Menière-Krankheit (anfallsweiser Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen, einseitige Ohrgeräusche und Schwerhörigkeit)
- Hörsturz (siehe dieser)
- Bluthoch- bzw. zu niederer Blutdruck
- Schädel-Hirn-Unfall (Schädelbasisfraktur)
- Akustikus-Neurinom (Tumor, des VIII. Gehirnnerven)
- degenerative Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule, auch unfallbedingt
- Veränderungen bestimmter Arterien (anlagebedingte Anomalien oder Erkrankungen von Gefäßen im Bereich des Innenohrs oder gar Brustkorbs)
- Tumoren (Gehirn, Gefäße, Innenohr)
- Herz-Kreislauferkrankungen (siehe oben), Gefäßverengungen

besonders aber

- seelische Erkrankungen (z.B. Depressionen) sowie psychosoziale Auslöser und psychosomatisch interpretierbare Störungen (siehe unten).

Wie definiert man den Tinnitus?

Die HNO-Heilkunde unterscheidet

- objektive Ohrgeräusche: Das sind solche, die mit technischen Hilfsmitteln von einem Beobachter aufgezeichnet werden können. Meist handelt es sich um anatomische Veränderungen oder Störungen der Funktionsabläufe (z.B. Gefäße, Muskeln, Mittelohrstörungen).

- Subjektive Ohrgeräusche dagegen sind solche, die von einem Beobachter oder mit technischer Unterstützung nicht wahrgenommen oder registriert werden können. Diese subjektiven Ohrgeräusche werden inzwischen als der eigentliche Tinnitus definiert.

Wichtig für die Betroffenen (und ihre Angehörigen) ist auf jeden Fall die Erkenntnis:

Tinnitus ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Symptom, ein Krankheitszeichen. Es kann sich aber im Laufe des Leidens verselbständigen.

Wem droht ein Tinnitus?

Der Tinnitus ist - wie erwähnt - so alt wie die Menschheit, aber nimmt zu. Aufgrund verschiedener, vor allem englischer und amerikanischer Untersuchungen hat man folgendes Häufigkeitsmuster festgestellt:

- Etwa 35-45% der Bevölkerung hatten schon einmal ein Ohrgeräusch.
- Etwa 15% kennen ein gelegentliches, spontanes Ohrgeräusch mit einer Dauer von mehr als 5 Minuten.
- Mindestens 8% erleben einen Tinnitus als störend.
- Etwa 0,5% fühlen sich durch ihre Ohrgeräusche in Lebensqualität und Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigt (nach Schwab und Lenarz).

Das sind beeindruckende Erkenntnisse, wenn man sie in Zahlen umrechnet. Dabei glaubt man heute, dass es in Wirklichkeit eher mehr als weniger Betroffene sind.

Viele Tinnitus-Patienten sind jedoch der Überzeugung, dass nur sie allein dieses Leiden hätten. Dabei sind sie umgeben von Millionen von "Tinnitus-Erfahrenen" und Hunderttausenden, die extrem darunter zu leiden haben.

Was muss man noch über den Tinnitus und seine Häufigkeit, den Verlauf und spezielle Aspekte wissen?

- Geschlecht: In den meisten Untersuchungen finden sich Frauen öfter betroffen als Männer. Dennoch suchen mehr männliche als weibliche Patienten ärztliche Hilfe. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sich der Tinnitus im Beruf besonders negativ auswirkt.

- Alter: Von jenen Patienten, die einen Arzt aufsuchen (und nur die kann man statistisch erfassen), sind die sogenannten mittleren oder besten Jahre sowie das beginnende Rückbildungsalter am stärksten betroffen. D.h. wenig unter 20, zunehmend zwischen 20 und 40, ein Häufigkeitsgipfel zwischen 40 und 60 Jahren und dann ein langsamer Rückgang. Am deutlichsten ist der Anstieg jenseits des 45. Lebensjahres. Das weist auf drei Belastungsfaktoren hin:

1. Beruflicher Stress (weshalb der Tinnitus auch gerne als "Lehrer-" oder "Bürgermeister-Krankheit" bezeichnet wird, aber es betrifft natürlich jeden Menschen, der Stress jeglicher Art ausgesetzt ist, am meisten wohl im Berufsleben).

2. Beginnende Alters-Schwerhörigkeit im anlaufenden Rückbildungsalter. Und hier muss auf ein besonderen Aspekt hingewiesen werden, den die meisten Menschen entweder gar nicht kennen, oder nicht ernst nehmen, und das ist das sogenannte

3. "Lärm-Konto": Lärm und Alter tragen ganz erheblich zur Entwicklung eines Tinnitus bei. So ist das Tinnitus-Risiko unter beruflicher Lärmbelastung etwa doppelt so hoch wie bei Menschen ohne entsprechende Beeinträchtigung.

Wer also sein "Lärm-Konto" über viele Jahre hinweg mit "Lärm-Schulden" belastet hat, muss im Rückbildungsalter öfter dafür "zahlen".

- Soziale Schicht: Tinnitus findet sich in allen sozialen Schichten, dürfte aber bei den Arbeitslosen (Stress eigener Art) am höchsten sein. Bei den Selbständigen findet man ihn seltener. Dass die Oberschicht und insbesondere die Selbständigen dann aber bei ärztlichen Untersuchungen doch häufiger vertreten sind, hängt mit dem schichtspezifischen Krankheitsverhalten bzw. verantwortungsvolleren Gesundheitsbewusstsein zusammen, was die Heilungsaussichten (Prognose) natürlich erheblich verbessert.

Wie verläuft ein Tinnitus?

Ohrgeräusche pflegen in der Regel nur zeitweise zu belasten, ein- oder beidseitig, können aber auch langfristig, in Einzelfällen sogar lebensbegleitend zermürben. Viele Menschen brauchen sogar Jahre, bis sie erstmals einen Arzt aufsuchen, was die Heilungsaussichten natürlich deutlich verschlechtert.

Besonderheiten der Tinnitus-Erkrankung

Für Diagnose und Therapie (siehe später) gilt es einige Besonderheiten zu beachten:

So gibt es Hinweise, dass das linke Ohr häufiger betroffen sei als das rechte, allerdings abhängig von Geschlecht und vielleicht sogar Alter.

Was Lautstärke und Charakter des Tinnitus anbelangt, so werden hochfrequente Geräusche lauter empfunden als tieffrequente.

Und von der Häufigkeit her ein deutliches Überwiegen von Pfeifen und Rauschen vor Summen und - sehr viel seltener - Zischen, Klingeln, Piepsen, Sausen, Brummen, Zirpen u.a.

Von besonderer Bedeutung für Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und vielleicht auch einmal als Einteilungsmaßstab ist die Frage, ob es sich um einen kompensierten oder dekompensierten Tinnitus handelt.

Unter einem kompensierten Tinnitus versteht man Ohrgeräusche, die vom Betroffenen ohne wesentliche Beeinträchtigung hingenommen werden, von Anfang an oder im Verlaufe des Leidens.

Dagegen zeichnet sich ein dekompensierter Tinnitus (auch als komplexer Tinnitus bezeichnet) dadurch aus, dass er als eigenständige Krankheit empfunden wird und sich auf weite Bereiche der Lebensführung negativ auswirkt. Das führt dann auch zu den bei vielen Tinnitus-Betroffenen geklagten Symptomen wie Unruhe, Schlafstörung, Konzentrationsschwäche, Angstzustände und sogar zu einer vegetativen Labilität (siehe das entsprechende Kapitel funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen). In extremen Fällen kann der Tinnitus sogar zu Verzweiflungstaten hinreißen (z.B. Selbsttötungsgefahr).

Einen tröstlichen Aspekt gilt es sich jedoch zu merken:

Ist Tinnitus gefährlich? Nein. Es gibt nur sehr wenige gefährliche Ursachen (z.B. eine Geschwulst am Hörnerven, das sogenannte Akustikus-Neurinom), die aber mit den heutigen Möglichkeiten relativ schnell diagnostiziert und entsprechend behandelt werden können. Ansonsten sind Ohrgeräusche weder von ihren Ursachen noch von ihren Auswirkungen her gefährlich - nur eben zermürbend.

Wie erklärt man sich einen Tinnitus medizinisch?

Um es vorwegzunehmen: Es gibt viele Theorien, aber bisher keine allseits anerkannte und vor allem alleinige Erkrankungsursache. Ursprung ist auf jeden Fall das Innenohr. Äußeres (Ohrmuschel und Gehörgang) sowie Mittelohr (Trommelfell, Gehörknöchelchen und Mittelohrmuskeln) dienen als Transportorgane für Schallwellen. Das Innenohr hingegen (siehe unten) ist das entscheidende Reiz-Verteilungs- und Reiz-Transformationsorgan. Hier werden die mechanischen Schwingungen der Innenohrflüssigkeit in biochemische und bioelektrische Signale umgeformt und damit den Hörnerven als Erregung weitergeleitet. Entscheidend in der sogenannten Innenohr-Schnecke (Cochlea) sind äußere und innere Haarzellen, wobei Letztere als die eigentlichen Sinneszellen angenommen werden. Wenn nun diese feinen Sinneszellen im Innenohr aufgrund einer Schädigung (organisch durch Lärm oder Knall bzw. psychosozial durch Stress u.a.) aktiviert werden, dann haben wir es mit einem Tinnitus zu tun. Das Problem ist zum einen das Ohrgeräusch, zum anderen aber die Grundlosigkeit und damit Sinnlosigkeit einer solchen Reaktion des Sinnesorgans "Gehör".

Früher, vor tausenden von Jahren, als man noch an Götter glaubte, nahm man an, Tinnitus-Betroffene könnten die Stimmen der Götter hören und daraus weissagen. Dementsprechend hoch war ihr Ansehen. Heute ist es umgekehrt: Die Betroffenen sind verzweifelt und fühlen sich behindert, beeinträchtigt, wenn nicht gar minderwertig.

Und doch hat sogar der Tinnitus eine Funktion, auch wenn der moderne Mensch nicht mehr gewohnt ist, auf die Signale seines Körpers zu achten. Ist es eine organische Ursache, wird er das lästige Ohrgeräusch noch am ehesten abzuklären und zu verstehen suchen. Hat es aber psychosoziale Gründe, z.B. Wesensart, Überforderung, Konflikte usw., so ist er nur ungern bereit, solche Ursachen zu erkennen, anzuerkennen und zu ändern. Und doch gilt der - für Betroffene schwer verständliche - Satz: Das ist mein Tinnitus, was will er mir sagen (siehe später).

Was kann man gegen Tinnitus tun?

Die beste Therapie ist eine rasche Diagnose. Das setzt allerdings voraus, dass man möglichst umgehend seinen Arzt aufsucht. Dieser wird erst einmal alle organischen Ursachen ausschließen (siehe oben). Dann wird er auch auf seelische bzw. psychosoziale Auslöser zu sprechen kommen.

In der Tat scheint die Mehrzahl der Tinnitus-Erkrankungen auf eine seelisch-körperliche Überforderung, besonders in stress-intensivem Kontakt mit anderen Menschen zurückzugehen. Dabei spricht man von einem "mehrdimensionalen Bedingungsgefüge":

- Oft organischer Schwachpunkt (oder deren mehrere),
- dazu psychosoziale (meist familiäre, vor allem aber berufliche Überforderung) sowie
- als Grundlage nicht selten eine entsprechende Persönlichkeitsstruktur oder zumindest nachteilige Strategie der individuellen Konfliktbewältigung.

Dazu kommen ggf. biologische, vor allem aber zentralnervöse Schwachpunkte mit erniedrigter Reizschwelle (unzulängliche Filterfunktion bestimmter Gehirnstrukturen bei gemütsmäßigem Stress?). Und dadurch ein Teufelskreis.

Zuerst einmal aber richtet man sich nach der Dauer des Tinnitus:

- Ein akuter (plötzlicher) Tinnitus, der weniger als drei Monate besteht, wird wie ein Hörsturz behandelt (siehe dieser, also vor allem durchblutungsfördende Medikamente).

- Beim sogenannten subakuten Tinnitus (zwischen drei und zwölf Monaten Dauer) geht man mit speziellen Medikamenten vor (siehe später), doch gewinnen jetzt vor allem Entspannungsverfahren an Bedeutung. Außerdem wird man sich therapeutisch verstärkt die Halswirbelsäule und das Kiefergelenk vornehmen.

- Beim chronischen Tinnitus (länger als ein Jahr) unterscheidet man zwischen den kompensierten Ohrgeräuschen (der Patient hat gelernt, sich mit seinem Leiden zu arrangieren) und einem dekompensierten Tinnitus. Hier drohen durch Stress, Anspannung, Resignation, Angst, Depressivität, Schlafstörungen u.a. ein Teufelskreis und damit Langzeiterkrankung oder gar Verstärkung.

Beim kompensierten Tinnitus beschränkt man sich auf Beruhigung und Beratung. Der dekompensierte Tinnitus braucht dies auch, aber ergänzt durch eine ggf. apparative Versorgung mit Maskierung oder Hörgeräten. Vor allem aber eine psychotherapeutische Betreuung, ambulant oder in einer (Fach-)Klinik, z.B. einer spezialisierten Tinnitus-Klinik.

Grundsätzlich wichtig zu wissen:

Das erste Jahr des Tinnitus sollte therapeutisch optimal genutzt werden.

Grundlage jeder Behandlung aber ist auch der inzwischen etablierte Grundsatz: weg von der Therapie (die bei chronischer Entwicklung ihre Grenzen hat und dadurch noch mehr frustriert und resigniert macht), hin zur Betreuung.

In medikamentöser Hinsicht gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die vor allem der HNO-Arzt einsetzt:

- Durchblutungsfördernde Therapie: rheologische Infusionstherapie mit Plasmaexpandern und Vasodilatanzien (gefäßerweiternde Arzneimittel)

- Antiarrhythmika bzw. Lokalanästhetika: z.B. niedermolekulares Dextran sowie Procain

- Neurotransmitter: Glutamat und Glutaminsäurediethylester sowie Caroverin

- Kalziumantagonisten: z.b. Nimodipin und Flunarizin

- Psychopharmaka: Da nicht wenige Tinnitus-Betroffene durch die permanente Lärmeinwirkung depressiv reagieren, ist man bisweilen gezwungen ein Antidepressivum zu geben (mitunter auch einen beruhigenden und angstlösenden Tranquilizer). Patienten, die keine synthetischen ("chemischen") Psychopharmaka wollen, können es auch mit psychotropen Phytopharmaka (Pflanzenheilmitteln mit Wirkung auf das Zentrale Nervensystem und damit Seelenleben) versuchen. Das ist vor allem das stimmungsaufhellende Johanniskraut (allerdings hoch genug dosiert und lange genug eingenommen) und die beruhigenden Pflanzenheilmittel Baldrian, Hopfen und Melisse (meist als Kombinationspräparat). Einzelheiten dazu siehe die Kapitel Tranquilizer, Antidepressiva, Pflanzenheilmittel mit Wirkung auf das Seelenleben).

- Weitere Arzneimittel mit indirekter Wirkung auf das Seelenleben: Diskutiert wird auch der Einfluss von Muskelrelaxanzien (muskelentspannende Wirkung) und Antikonvulsiva. Das sind antiepileptisch wirkende Arzneimittel wie Carbamazepin oder Valproinsäure. Dies bedarf allerdings - wie bei den Psychopharmaka auch - einer Zusammenarbeit zwischen HNO-Arzt und Psychiater/Nervenarzt/Neurologen.

- Vasodilatatoren: Substanzen wie Niacin (Vitamin B-Komplex) und das pflanzliche Ginkgo biloba können den Blutfluss erhöhen, weshalb man sie vor allem in den ersten Wochen eines Tinnitus versucht hat. Allerdings gibt es hier kontroverse Ansichten unter den Fachleuten.

Nicht-medikamentöse Therapiemethoden zur Behandlung des Tinnitus

Zu den nicht-medikamentösen Behandlungsmethoden im weitesten Sinne gehören vor allem Biofeedback, autogenes Training, Hypnotherapie, hyperbare Sauerstofftherapie (HBO-Therapie), Hörgeräte und Tinnitus-Maskierung sowie die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT). Auch Akupunktur, Sauerstoffmehrschritt-Therapie, homöopathische Medikamente ("Zellsalze") u.a. wurden auf ihre Effektivität geprüft.

Zu besonderer Bedeutung brachten es vor allem Tinnitus-Maskierung, Tinnitus-Retraining-Therapie sowie psychotherapeutisch stützende Maßnahmen. Im Einzelnen:

- Hörgeräte und Tinnitus-Maskierung: Hier geht es vor allem um die Verstärkung der Umweltgeräusch durch ein Hörgerät. Damit soll das hintergründige Tinnitusgeräusch verdeckt oder maskiert werden. Auch bei Patienten ohne Hörverlust setzt man gelegentlich einen sogenannten Tinnitusmasker ein, der das Ohrgeräusch durch ein Rauschsignal verdecken soll.

- Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT): Im Gegensatz zur Maskierung (siehe oben), die den Tinnitus verdecken und zu anderen Handlungsansätzen, die den Tinnitus ausschalten sollen, zielt die TRT darauf ab, dass Gehör gegenüber dem Tinnitus zu de-sensibilisieren. Es wird also nicht so sehr die eigentliche Ursache bekämpft, sondern versucht den unbewussten Wahrnehmungskreislauf zu unterbrechen, das Gehör also zu "re-trainieren".

Das setzt aber nicht nur eine genaue Kenntnis der individuellen Tinnitus-Entstehung und des Zusammenspiels von Hörwahrnehmungsstörungen und psychischen bzw. psychosozialen Folgen voraus, es braucht auch ständige Übungen zur Verbesserung jener Hörwahrnehmungen, die die Umlernprozesse ("Re-Training") fördern und die Fixierung auf den Tinnitus lösen sollen. Langfristig "lernt" das Gehör damit, sich an den Tinnitus zu gewöhnen und ihn zu überhören. Das kann allerdings viele Monate dauern.

- Psychotherapeutische Maßnahmen im weitesten Sinne: Tinnitus zermürbt, macht müde, matt, resigniert, deprimiert und durchdringt schließlich alle seelischen, kognitiven (geistigen) und psychovegetativen Schichten. Tinnitus ist also zum (auslösenden?) Alltagsstress ein zusätzlicher Stressfaktor. Dem sollen Autogenes Training, Yoga, Muskelrelaxation nach Jacobson, Biofeedback, Hypnotherapie, Suggestion, kognitive Verhaltenstherapie u.a. entgegenwirken. Dazu sollte im Bedarfsfalle (siehe dekompensierter Tinnitus) eine stützende Gesprächspsychotherapie beitragen (Stichwort: weg von der Behandlung, hin zur Betreuung).

Eine wichtige, zunehmend sogar zentrale Position nehmen die Tinnitus-Selbsthilfegruppen ein, wo die Betroffenen eine Fülle von praktischen Ratschlägen und Empfehlungen erwartet. Und Trost aus der Reihe der Erfahrensten, nämlich der Mitbetroffenen. Einzelheiten siehe Kasten.

Was kann man gegen Tinnitus unternehmen?

- Vermeiden Sie unnötige Resignation und damit Rückzug, Isolation und unzureichende medizinische Betreuung bzw. Behandlung.
- Informieren Sie sich ausreichend über Ursachen, Auswirkungen, Lebensperspektiven, seelische, körperliche und psychosoziale Folgen eines Tinnitus. "Wissen ist Macht." Auch die Macht zu helfen - nicht zuletzt sich selber. Alles andere führt zu unnötigen Ängsten, zu negativem Denken, zu Niedergeschlagenheit, Ratlosigkeit, Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit - vermeidbar mit den heutigen Möglichkeiten.
- Denken Sie auch stets an den Trost: Tinnitus führt weder zur Taubheit noch besteht die Gefahr, verrückt zu werden.
- Umgehen Sie vor allem in der Akutphase jeden Stress. Am besten man wird sofort ein bis zwei Wochen krankgeschrieben wird. Raus aus der "Mühle", auch wenn man sich der Überforderung gewachsen glaubt oder sich gar unersetzbar wähnt.
- Verzichten Sie auf Nikotin und Koffein, einen übermäßigen Alkoholgenuss, chinin-haltige Getränke und glutamin- bzw. glutamat-haltige Speisen (z.B. China-Restaurant). Vermeiden Sie auch große Hitze und Kälte bzw. entsprechende Temperaturschwankungen (also z.B. Urlaubsflüge mit entsprechenden klimatischen Bedingungen).
- Meiden Sie Lärm und laute Musik.
- Überprüfen Sie gemeinsam mit Ihrem Arzt Ihre Medikamente. Sind sogenannte ototoxische Arzneimittel dabei, die das Gehör als Nebenwirkung schädigen könnten?
- Trainieren Sie Entspannungsübungen (Autogenes Training, Yoga, Progressive Muskelrelaxation). Üben Sie konsequent, auch wenn Ihnen der Tinnitus viel Initiative und Energie raubt.
- Vermeiden Sie negative Denk-Schablonen (und damit sich selbst erfüllende Negativ-Prophezeiungen), denken Sie konstruktiv, positiv und damit die Regeneration unterstützend.
- Versuchen Sie körperlich aktiv zu sein, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Ein günstiges Mittelmaß ist der sogenannte "Gesundmarsch bei Tageslicht", da körperlich stärkend, angstlösend und stimmungsstabilisierend (etwa 6 bis 9 km/Stunde, rund 30 bis 60 Minuten pro Tag).
- Fördern Sie Ihre familiären und sonstigen sozialen Beziehungen, aber vermeiden Sie es, Ihre Angehörigen ständig durch Ihr Jammern und Klagen zu "nerven".
Denken Sie an zweierlei: Zum einen ist der moderne Mensch nicht sehr belastbar. Zum anderen sehen Sie auch als schwer Tinnitus-Betroffener nicht krank aus, unglücklich zwar, aber der Laie hat seine Mühe, Sie als so beeinträchtigt anzusehen, wie Sie in der Tat sind. Wenn Sie dann noch durch dauerndes Klagen belasten, zieht sich Ihr Umfeld langsam zurück. Aber gerade jetzt brauchen Sie es ja.
Versuchen Sie einen Kompromiss und denken Sie daran: Auch der Wohlwollendste hat seine Grenzen und wenn die Reserven zu Ende sind, "ist auch sein Topf leer".

Ratschläge aus der Reihe der Selbsthilfegruppen

Vieles läuft letztlich auf einen Aspekt hinaus, der schon erwähnt wurde, vor allem aber zu Beginn vielen Patienten weder einleuchtet noch Trost vermittelt, auf Dauer aber doch recht hilfreich ist:

Der Tinnitus als Gradmesser der individuellen seelisch-körperlichen Belastungsfähigkeit und Warnhinweis auf Überforderung, dysfunktionalen Kräfteeinsatz und schwindende Reserven. Oder populär und lebensnah ausgedrückt: "Das ist mein Tinnitus, was will er mir sagen?" Und danach: Konsequenzen ziehen und Geduld, Geduld und nochmals Geduld.

Literatur

Zahlreiche Fachbücher und wissenschaftliche Publikationen, inzwischen auch zunehmende Zahl guter allgemeinverständlicher Artikel und Sachbücher.

Grundlage vorliegender Ausführung sind:

Biesinger, E.: Die Behandlung von Ohrgeräuschen. Was Tinnitus-Patienten das Leben leichter macht. Trias-Verlag, Stuttgart 1996

Deter, H.-C. (Hrsg.): Angewandte Psychosomatik. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 1997

Goebel, G.: Ohrgeräusche - psychosomatische Aspekte des komplexen chronischen Tinnitus. Quintessenz, München 1992

Hallam, R.: Leben mit Tinnitus. Wie Ohrgeräusche erträglicher werden. Quintessenz-Verlag, München 1994

Kellerhals, B.: Tinnitus-Hilfe. Karger-Verlag, Basel 1996

Richtberg, W.: Was Schwerhörigsein bedeutet. Kind, Großburgwedel 1990

Richtberg, W.: Vom Zuhören zur Begegnung. In: H.-J. Bochnik, W. Oehl (Hrsg.): Begegnungen mit psychisch Kranken. Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 2000

Richtberg, W.: Psychische und soziale Folgen von Schwerhörigkeit. In: Faust, V. (Hrsg.): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. G. Fischer-Verlag, Stuttgart, Jena-New York 1996

Richtberg, W., K. Verch (Hrsg.): Hilfen für Hörgeschädigte. Academia-Verlag, St. Augustin 1993

Uexküll, Th. v. (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1996

Weitere Informationen durch

Deutsche Tinnitus-Liga (DTL): Postfach 349, D-42353 Wuppertal, Telefon: 0202/2 46 52-0, Telefax: 0202/4 67 09 32

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