K. G. Kahl, J. H. Puls, Gabriele Schmid:
PPRAXISHANDBUCH ADHS
Diagnostik und Therapie für alle Altersstufen
Thieme-Verlag, Stuttgart – New York 2007. 160 S., 10 Abb., 27 Tab., € 29,95.
ISBN: 978-3-13-143021-2
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ADHS – vier Buchstaben, die inzwischen die Gesundheits-Szene beherrschen. Dabei waren sie vor noch nicht allzu langer Zeit nicht einmal Nervenärzten und Kinder- und Jugendpsychiatern so recht geläufig. Aber – wie so oft – es gibt auch in der Psychiatrie nichts Neues, alles war schon einmal da. Schließlich deckt die Seelenheilkunde einen nicht geringen Teil menschlicher Entwicklung, Möglichkeiten und Grenzen ab, auch wenn erst in den letzten Jahrzehnten langsam realistischer beurteilt – und damit diagnostiziert und therapiert.
Und so ist es auch mit ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung, wie man es heute nennt (manchmal auch nur als ADS bezeichnet, wenn die Hyperaktivität nicht im Vordergrund steht). Gelitten (vor allem das Umfeld) hat man darunter schon seit jeher. Bildhaft und sprachlich eindrücklich, schlicht und damit gut merkbar interpretiert, hatte es schon vor über 150 Jahren der selber betroffene psychiatrische Chefarzt Dr. Heinrich Hoffmann aus Frankfurt dokumentiert, der es für seine (erblich belasteten) Kinder malte und dichtete. Dabei erinnert man sich immer nur an den Zappelphilipp, doch der leidgeprüfte und psychiatrisch gut beobachtende Nervenarzt stellte ja auch den Hans-Guck-in-die-Luft, den Suppen-Kasper und – nicht vergessen – den bösen Friederich vor. Alles mögliche Symptome von ADHS, wie wir heute wissen. Später nannte man es hyperkinetisches Syndrom, wobei hyperkinetisch ein neurologischer Krankheitsbegriff ist, der damit wenig zu tun hat, deshalb in Folge hyperaktives Syndrom und heute ADHS.
Vorstellen braucht man es nicht mehr. Die Zahl der Fach- und (nicht immer wissenschaftlich völlig zutreffenden) Sach-Bücher ist so gewachsen, dass der Überblick langsam verloren geht. Deshalb kann und muss man im Bedarfsfalle auf Fachbücher zurückgreifen, deren Herausgeber und Autoren sich mit dem zugegebenermaßen komplexen Thema wissenschaftlich und vor allem klinisch befasst haben. Auch hier gibt es inzwischen eine wachsende Zahl von Experten (wenngleich noch lange nicht flächen-deckend, vor allem was ADHS im Erwachsenenalter betrifft), die uns mit dem notwendigen Wissen versorgen. Denn mit den Forschungs-Bemühungen wachsen auch die differenzialdiagnostischen Überlegungen (was könnte es sonst noch sein) bzw. das früher ebenfalls kaum beachtete Phänomen der Co-Morbidität (wenn eine Krankheit zur anderen kommt – mit allen Folgen dieser Mehrfach-Belastung).
Der Sammelband Praxishandbuch ADHS ist ein weiterer Baustein in dem leider noch überschaubaren (d. h. zahlenmäßig begrenzten) Angebot an seriösen, wissenschaftlich und praxis-fundierten Büchern für die Weiter- und Fortbildung der Experten (wozu immer häufiger, wenn auch oft gegen ihren Willen die Pädiater, Allgemeinärzte und Internisten gehören). Und vielleicht findet das zahlenmäßig und wirtschaftlich wachsende Problem (vom persönlichen Leid und der Belastung des Umfelds einmal ganz abgesehen) eines Tages auch Eingang in die Ausbildung der Medizin-Studenten (später hoffentlich auch aller Psychologen, Sozialpädagogen, vielleicht sogar Pädagogen, es wäre zu wünschen und würde auch der Problem-Lage generell dienen).
Interessant, dass es anfangs nur „Einzelkämpfer“ waren, die sich des Themas klinisch, wissenschaftlich und publizistisch annahmen. Im Laufe der Zeit ufern die Anforderungen aber so aus, dass es sinnvoll und nach und nach sogar zwingend wird, verschiedene Experten einzubinden. So auch im Praxishandbuch ADHS, das deshalb auch eine solide Grundlage bietet für Epidemiologie, Symptomatik und Verlauf, Diagnose, Differenzialdiagnose, Ko-Morbidität und Therapie. Letzteres vor allem medikamentös (wenn die Pharmaindustrie sich dabei beteiligt sieht, bekommt natürlich das Ganze einen gewissen „Schub“, nicht ohne Eigennutz, selbstredend, aber bei kritischer Distanz auch durchaus nutzbar). Interessant, dass beim ADHS auch die Homöopathie mitredet, was seine eigenen Probleme aufwirft, aber letztlich auch von der Einstellung des Betreffenden (und seiner Eltern!) mitbestimmt wird. Noch wichtiger aber ist die Eltern- und Lehrer-Beratung, inzwischen sogar als Eltern-Training bezeichnet mit verhaltens-therapeutischen, ergotherapeutischen, familien-therapeutischen Empfehlungen, mit Schul-Laufbahnberatung (Sonderfall Hochbegabung), mit Entspannungstraining (?) u. a.
Inzwischen – und hier macht sich dann die Differenzierung mit ihrem immer breiter werdenden diagnostischen und Hilfs-Angebot positiv bemerkbar –, geht es auch um Berufsfindung (Arbeitsamt), Finanzen, Führerschein und Verkehrssicherheit, Bundeswehr und Zivildienst, Jugendamt, Sozialamt, Jugend- und Sozialhilfe, nicht zuletzt auch um erste Paar-Beziehungen und Troubleshooting – bis zu kriminologischen Aspekten, am Ende sogar Gericht und Vollzugsanstalt.
Interessant schließlich der Wandel der Psychopathologie, d. h. des Beschwerdebildes im Laufe von noch gar nicht so langer Beobachtungs-Zeit. Das kennt man auch von anderen seelischen Störungen, was schon früher verwunderte, aber auch den psychosozialen Einfluss von Umfeld im Speziellen und Gesellschaft im Allgemeinen beweist.
Das Buch besticht durch die Vielfalt von Blickwinkeln und Anwendungs-Möglichkeiten, wird ergänzt durch hilfreiche Adressen, eine (ständig wachsende) Übersicht wissenschaftlicher Artikel und Fachbücher, einschließlich Ratgeber und Selbsthilfebücher und ein ausreichend umfassendes Sachregister.
Insgesamt eine Bereicherung des ständig wachsenden Angebots zu AD(H)S: kurz, prägnant, solider wissenschaftlicher Hintergrund, gut verständlich – und damit empfehlenswert (VF).
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