Anne Wolowski – H.-J. Demmel (Hrsg.):
PSYCHOSOMATISCHE MEDIZIN UND PSYCHOLOGIE FÜR ZAHNMEDIZINER
CompactLehrbuch für Studium und Praxis
Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2010. 255 S., 26 Abb., 40 Tab., € 49,95.
ISBN 978-3-7945-2629-1
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„Dennoch bis jetzt gab’s keinen Philosophen, der mit Geduld das Zahnweh konnt’ ertragen“ (William-Shakespeare: Viel Lärm um nichts). Mit anderen Worten: Zähne werden im Allgemeinen – von ihrer ästhetischen Funktion einmal abgesehen – am ehesten mit Zahnweh assoziiert. Es gibt aber noch andere Aspekte, nicht zuletzt psychosomatische, wiederum am besten an einem Sinnspruch festgemacht: „Am Zahn hängt noch ein ganzer Mensch“. Heute leuchtet das eher ein, früher war es nicht nur ein Verständnis-, sondern auch Akzeptanz-Problem, Zähne über das rein dentale hinaus zu verstehen und im Bedarfsfalle entsprechend zu behandeln.
Das kommt in obigem Lehrbuch sehr konzis bereits im Geleitwort von Prof. R. Marxkors zur Sprache: „In den 1970-er Jahren war es keinesfalls einfach, die Psychosomatik in die Zahnheilkunde und hier speziell in die zahnärztliche Prothetik einzubringen. Man stieß allenthalben auf Widerstände, am stärksten bei den Patienten, aber auch bei den Zahnmedizinern und selbst bei den Allgemeinmedizinern, obgleich unklare Gesichtsbeschwerden, vor allem Gaumenbrennen, bekannt und verbreitet waren und es keine wirksamen Therapien gab.“ Dann ein Satz, der in allen medizinischen Bereichen den Pionieren mit neuen Erkenntnissen leidvoll bekannt ist, vor allem wenn die Seele eine Rolle spielt: „Alle Gruppen hatten ihre Gründe für ihr Unverständnis“. Und weiter: „Bei den Patienten waren die Reaktionen verständlicherweise deshalb am heftigsten, weil zu jener Zeit noch alle Begriffe, in denen das Wort „psycho“ enthalten war, verdächtigt wurden, auf Irresein hinzudeuten. Ich bin doch nicht verrückt, solches kommt in unserer Familie nicht vor! Es gab heftigste Auseinandersetzungen und nicht selten lautstarken Protest.“
„Bei den Allgemeinmedizinern waren die Bedenken differenzierter. Da mit Zahnprothetik überwiegend totale Prothesen assoziiert wurden, kam es eher zu folgenden Reaktionen: Man kann sich gar nicht so recht vorstellen, welche Zusammenhänge es zwischen einem Stück Kunststoff und der Seele geben soll!
Und in der Zahnmedizin selbst, speziell in der Zahnprothetik, war „Gnathologie“ das Zauberwort. Nicht nur alle unklaren Kiefer-Gesichtsbeschwerden, sondern auch darüber hinausgehende Beschwerden glaubte man durch eine spezielle Okklusion beheben zu können. Erst wenn man erleben musste, dass manche Schmerzen selbst durch eine optimale Okklusion nicht zu beeinflussen waren, zog man auch psychosomatische Ursachen in Erwägung.“
Selten hat ein Geleitwort nicht nur das spezielle Entwicklungs-Problem der letzten Jahrzehnte in der Zahnheilkunde, sondern den gesamten Bereich der „Seelenheilkunde“ so umfassend und mit wenigen praxis-relevanten Worten auf den Punkt gebracht, wie das von Professor Dr. R. Marxkors.
Mit diesem treffenden und damit hilfreichen Start geht der Leser mit nicht nur zahnmedizinischem, sondern generellem (Psycho-)Interesse an dieses CompactLehrbuch für Studium und Praxis und hat damit auch als Allgemeinmediziner, Psychologe, Psychotherapeut jeglicher Konvenienz, Psychiater und Nervenarzt ein bisher im deutschsprachigen Bereich einmaliges Informations-Medium zur Hand. Die zwei Herausgeber und ihre zwölf Experten für die spezifischen Kapitel bieten ein hervorragendes, wissenschaftlich fundiertes und dabei doch weitgehend auch praxis-bezogen und verständlich geschriebenes Fachwissen an, das jeden Zweifler von der nicht nur Mehr-, sondern Viel-Schichtigkeit psychosomatischer Aspekte in der Zahnmedizin überzeugt. Das beginnt mit allgemeinen Hinweisen (die Bedeutung der Psychosomatik für die Zahnmedizin sowie biopsychosoziale Medizin und zahnärztliche Tätigkeit), geht über die Grundlagen der Psychologie in der Psychosomatischen Medizin generell und der Psychologie der zahnärztlichen Praxis im Speziellen sowie über die besonderen Aspekte psychiatrischer Krankheitsbilder (z. B. Depressionen, Angst, Sucht, Persönlichkeitsstörungen) und neurologischen Erkenntnisse bis zu konkreten Praxis-Problemen. Sie beginnen mit der bio-psycho-sozialen Anamnese und dem ärztlichen Gespräch (der erste Eindruck, Kommunikation, speziell mit schwierigen Patienten, Gesprächsführung u. a.), werden ergänzt durch zahnärztliche Erkenntnisse der psychosomatischen Grundversorgung einschließlich interdisziplinärer Zusammenarbeit(!) und münden schließlich in spezielle Krankheitsbilder. Hier wird dann auch klar, was alles dazu gehören kann – und endloses Leid verursachen muss, wenn es nicht professionell diagnostiziert und gezielt behandelt wird. Beispiele: Somatoforme Schmerzstörung, chronischer Gesichtschmerz, kranio-mandibuläre Dysfunktion und Bruxismus, Tinnitus (wer hätte gedacht, dass die HNO-Ärzte zahnärztliche Unterstützung brauchen könnten), vor allem aber die in letzter Zeit zunehmenden körperdysmorphen Störungen und ästhetischen Behandlungswünsche. Und natürlich die psychogene Prothesen-Unverträglichkeit, insbesondere was das von den Patienten verdächtigte Material anbelangt sowie Mundschleimhaut-Brennen. Dann wieder ein Krankheitsbild, das man hier nicht vermuten würde, bei der entsprechenden Lektüre aber dann doch nachdenklich stimmende Erkenntnisse fördert, nämlich die Ess-Störungen. Zuletzt die Zahnbehandlungs-Angst, wenn nicht gar -Phobie.
Früher lediglich eine marginale Bemerkung erfordernd, heute ein ganzes Kapitel: Forensische Aspekte bei der zahnärztlichen Behandlung psychosomatisch kranker Patienten, sprich Aufklärungs-, Dokumentations- und Verschwiegenheitspflicht – und Umgang mit dem Misserfolg.
Das Lehrbuch wird abgerundet von vier Kapiteln, die ebenfalls dem hier weniger Kundigen einige Überraschungen bescheren: psychotherapeutische Behandlungsverfahren in der Zahnmedizin, von der Psychoanalyse über die tiefenpsychologische, Verhaltens- und Gesprächtstherapie bis zur zahnärztlichen Hypnose, Hypnotherapie, weitere Entspannungsverfahren einschließlich Körperarbeit, Körpertherapie und Körperpsychotherapie.
Interessant die Kapitel über Fachtherapeuten und Fachinstitutionen sowie Klassifikationssystem und Leitlinien. Und gezielte Hinweise über den Einsatz psychometrischer Testverfahren in der Praxis des Zahnarztes (HADS-D, SOMS, SCL-90-R) u. a.
Die Großkapitel haben ihre eigenen ergänzenden Literatur-Empfehlungen, wobei die umfassende Literatur-Übersicht am Schluss noch einmal deutlich macht: Die psychosomatische Medizin und Psychologie in der Zahnmedizin hat Zukunft bzw. treffender: muss sich in Zukunft vielfältigen Ansprüchen, Anforderungen und Problemen stellen, was wiederum die Wissenschaft beflügelt. Sehr erfreulich: Ein ergiebiges Sachverzeichnis.
Kommen wir am Schluss noch einmal auf das Geleitwort zurück, das mit den Sätzen endet: „Man erkennt, dass es ein schwieriger Prozess war, die Psychosomatik in der Zahnheilkunde zu etablieren, der nur durch unerschütterliche und beharrliche Aufklärungs- und Fortbildungsbemühungen zum Erfolg führte. Und es ist erfreulich zu sehen, wie sich auf der Basis der Pionierarbeit einiger weniger eine lebendige Arbeitsgruppe in der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde entwickelte, die erfolgreich ein breit gefächertes Basiswissen erarbeitet hat, welches sie zum Segen der Patienten wie der Zahnärzte in Vorträgen, Seminaren und Literatur anbieten kann.“
Dieses Buch ist in besonderer Weise hilfreich, wenn man sich die notwendige Basiskompetenz in der Psychosomatik anzueignen wünscht. Ein längst überfälliges Grundlagen-Werk, das seine Informations-Dienste zum Segen einer wachsenden Zahl von Betroffenen anbietet, die früher keine oder nur geringe Handlungs- und damit Linderungs-Chancen hatten, dafür aber mitunter eine zwiespältige Abwertung ertragen mussten, die in Zukunft hoffentlich der Vergangenheit angehört (VF).
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