Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

J. Bösch:
SPIRITUELLES HEILEN UND SCHULMEDIZIN
Eine Wissenschaft am Neuanfang
AT-Verlag, Baden-München 2006 168 S. € 17,90.
ISBN 3-03800-281-X

Den Begriff sensibel kennt jeder: empfindsam, feinfühlig, empfindlich oder gar reizempfindlich. Der Begriff sensitiv ist schon weniger geläufig. Das Wörterbuch übersetzt ihn als feinnervig, überempfindlich, reizbar. Wenn man so will, eine Stufe zu viel oder konkret "überzogener", was die Reaktion anbelangt.

Die Psychiater langen da bei der Fach-Bezeichnung sensitiv aber noch ganz anders hin, zumindest die frühere Generation und ihre Definitionen und Klassifikationen. So reiht beispielsweise das führende psychiatrische Wörterbuch in deutscher Sprache die Sensitiven unter die selbstunsicheren Psychopaten ein (siehe Kasten).

Sensitive: Selbstunsichere Psychopathen. Zartfühlende, leicht kränkbare, empfindsame, grüblerische, sittlich hoch stehende Menschen, die sich mit vielen Skrupeln quälen ("Skrupelhaftigkeit") und ein schwaches Selbstwertgefühl besitzen.

Es besteht eine starke Eindrucksfähigkeit und herabgesetzte Fähigkeit zur Abfuhr gestauter Affekte nach außen, die dann meist durchbruchartig, plötzlich und heftig erfolgt.

Aus U. H. Peters: Wörterbuch Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München-Wien 2000

Das wird allerdings nicht überall so gesehen wie es die Schulmedizin und hier ihr Fachgebiet Psychiatrie früher interpretierte. Heute scheinen sich vor allem zwei Strömungen in der "Seelenheilkunde" abzuzeichnen: Zum einen der rein naturwissenschaftliche Erkenntnisweg, der dann auch auf die modernen (technischen) Diagnose- und Therapie-Möglichkeiten zurück greift (neurophysiologisch und -anatomisch), zum anderen scheint sich auch eine "spirituelle Wendung" anzudeuten, und zwar sowohl in der Medizin generell als auch in der Psychiatrie und Medizinischen Psychologie im Speziellen. Dem Laien, auch dem interessierten, ist sowohl das eine als auch das andere nicht geläufig. Die "unnahbare bis eiskalte Technik" macht ihm Angst und die "spirituellen Heil-Methoden" machen ihn misstrauisch. Beides aber - so spürt er instinktiv - hat seine unbestreitbaren Vor- und zu vermeidenden Nachteile. Schön wäre es, so kommt er zu dem zweckmäßigen Schluss, die Vorteile beider Richtungen zu vereinen. Schließlich geht es ja beiden um das gleiche, nämlich um die Erhaltung der Gesundheit: unser höchstes Gut, wie immer wieder beteuert wird.

Nun weiß man aber auch, dass sich Schulmedizin und spirituelles Heilen relativ unflexibel gegenüber stehen; es mangelt nicht an abschätzigen Bemerkungen bis hin zur offenen Diskriminierung. Dabei - und das merkt auch jeder Laie sehr rasch -, bemüht sich keine Seite um das notwendige Wissen und damit Verständnis der anderen Diagnose- und Therapie-Richtung. Doch das täte Not, ist aber von der Aufgabe so aufwendig, dass man es kaum verlangen, geschweige denn "interdisziplinär synergetisch praktiziert" vorfinden kann, auf welcher fachlichen Ebene auch immer.

Ein Schulmediziner bemüht sich um das Verständnis spirituellen Heilens

Also bleibt der Graben bestehen, und mit ihm mangelhafte Information, unzureichendes Wissen, Neigung zu bequemer Herabsetzung und Diskriminierung - und alles zu Lasten derer, denen doch geholfen werden soll? Gibt es denn niemand, der sich um das Wissen beider Seiten bemüht und wenigstens versucht, eine gemeinsame Grundlage, wenn nicht gar Forschungs-Richtung zu erarbeiten?

Es gibt ein kleines Buch, das schon vor vier Jahren erschien und inzwischen im AT-Verlag neu aufgelegt wurde. Sein Titel: Spirituelles Heilen und Schulmedizin - eine Wissenschaft am Neuanfang. Der Autor ist - und das lässt aufhorchen - ein Schulmediziner, dem man in seinem Werdegang nicht nachsagen kann, "dass er sich von vorn herein spirituell verrannt habe" (ein nicht selten zu hörender Vorwurf, wenn sich ein Arzt gleich nach dem schulmedizinischen Studium und Examen "auf den spirituellen Weg macht").

Nein, hier handelt es sich um den Schweizer Privatdozenten Dr. med. habil. Jakob Bösch. Er arbeitete nach dem Medizinstudium am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich. Das ist - wenn man es sich bildlich vorstellt - der "biologischste" Pol einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Danach interessierte er sich aber für die Seele im praktischen Alltag und war zehn Jahre an der Psychiatrischen Poliklinik am Universitäts-Spital Zürich tätig, zuletzt als leitender Arzt. Dann wurde er Chefarzt der Externen Psychiatrischen Dienste Baselland und Privatdozent für Psychiatrie und Psychosoziale Medizin an der Universität Basel.

Psychiater mögen zwar mehr als andere medizinische Spezialisierungen der seelischen, psychosozialen und geistigen Ebene ihrer Zielgruppe, sprich psychisch gefährdeten oder kranken Patienten näher stehen; sie müssen trotzdem erd-verbunden bleiben, der Alltag in Klinik und Praxis zwingt sie dazu. Das wird auch dem Autor nicht erspart geblieben sein; jeder, der eine psychiatrische Poliklinik oder einen externen psychiatrischen Dienst kennen gelernt hat, wird es bestätigen. Gleichwohl beschäftigte sich Jakob Bösch schon früh mit geistigem Heilen und untersuchte in Forschungsprojekten die Arbeit von geistig Heilenden in der Schulmedizin. Genau das ist es aber, was sich der Laie (und nebenbei auch viele Ärzte und Psychologen, wer will sich schon eine einseitige Sichtweise vorwerfen lassen) wünschen.

Jakob Bösch hat also ein kleines Buch geschrieben, das sowohl das spirituelle Heilen als auch die Schulmedizin im Auge hat. Und es liest sich darüber hinaus auch noch flüssig. Die einzelnen Themen gehen von der spirituellen Wende in der Medizin über die geistige Einwirkung auf Materie und Lebewesen, die Wirksamkeit von Schul- und Komplementärmedizin bis zu spirituellem Heilen, Arbeiten mit der Aura oder gar der Zusammenarbeit mit dem Jenseits. Dabei spürt man sein "offenes Herz", ohne dass er die notwendige "schulmedizinische Distanz" verliert. Das Buch lohnt sich.

Wir aber widmen uns einfach einmal selektiv seinem Kapitel

Spiritualität und Sensitivität

Sensitiv zu sein, also in der früheren Terminologie "hellsichtig" und "hellfühlend", ist kein Nachteil. Frühere Ärzte verstanden diese Gabe besser zu nutzen und zwar zum Wohle ihrer Patienten. Spätere Ärzte-Generationen verloren oder verleugneten sie, denn die technischen Möglichkeiten sind nicht nur effektiver (so meint man zumindest), sondern auch bequemer (was in entsprechenden Diskussionen aber nicht gerne zugestanden wird).

Tatsächlich nötigt einem die intuitive Heilkunst unserer Altvorderen, von den Griechen über die Römer bis zum "dunklen" Mittelalter, gehörigen Respekt ab, wie J. Bösch schreibt: Intuitiv, also unmittelbar, nicht durch den Verstand vermittelte Erkenntnis, allerdings auf einer wohl trainierten Gabe basierend, umsonst gibt es nichts. Natürlich spielt dieses Phänomen in der indischen und chinesischen Medizin eine noch größere Rolle, überhaupt bei allen alten Hochkulturen.

Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben viele Ärzte entweder selber ihre sensitive Begabung eingesetzt, oder sie haben mit hellsichtigen und hellfühlenden Naturtalenten in Diagnose und Therapie zusammen gearbeitet. Ein gutes Beispiel dafür war der Arzt, Naturwissenschaftler und Dichter Justinus Kerner mit seiner hellsichtigen Patientin Friederike Hauffe ("die Seherin von Prevorst"). Das Buch löste heftige Diskussionen aus und hätte manch anderen Autor wohl in schwere Bedrängnis gebracht. Doch Justinus Kerner war schon deshalb schwer angreifbar, weil er nicht nur diese Sensitivität akzeptierte, sondern auch noch einer der erfolgreichsten Naturwissenschaftler war (der als erster die damals noch unbekannte Vergiftung mit den Botulismus-Bakterien beschrieb). Um was handelt es sich?

Friederike Hauffe konnte zukünftige und entfernt stattfindende Ereignisse genau beschreiben. Sie nahm Menschen wahr, die noch kilometerweit entfernt waren, und zwar beschrieb sie nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihre Absichten, Wünsche und Krankheiten. Auch ihr Kontakt mit Verstorbenen ließ viele Kritiker ratlos zurück. Vorteile hatte sie davon nicht, im Gegenteil; sie war nicht nur seelisch, sondern auch körperlich ein hochgradig empfindliches Wesen. Für Kerner übrigens vorteilhaft war natürlich auch die Einstellung der damaligen Ärzteschaft, die zwischen moderner, wissenschaftlicher Naturbeobachtung und intuitivem Erkennen keinen Widerspruch sah.

Was heißt Sensitivität?

Sensitivität wird heute definiert als eine besondere Empfindsamkeit und Offenheit für Gefühle, Gedanken, Botschaften und Zustände von anderen Menschen oder anderen Bewusstseins-Ebenen. Sensitivität ist ein Sammelbegriff für Begabungen, die auch als Intuition, Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit, Telepathie, Präkognition und Ähnliches bezeichnet wird.

Spirituelle Menschen verfügen oft über ein besonderes Maß an Sensitivität. An und für sich hat aber beides direkt nichts miteinander zu tun, jedenfalls nicht zwingend. Auch die Religions-Zugehörigkeit spielt keine Rolle. Was sensitive Menschen allerdings können, vor allem bei entsprechender Offenheit: sie vermögen seelisch-geistige Zusammenhänge erkennen, was ihnen selber und anderen Menschen durchaus hilfreich sein kann. Natürlich kann eine sensitive Begabung auch missbraucht werden, zur Ausbeutung anderer, zur Anhäufung von materiellem Reichtum, zur Verführung u. a. Sensitivität - so die Wissenschaftler - ist eine menschliche Begabung, vergleichbar mit Musikalität, sportlichen Spitzenleistungen u. a. Minimale Ansätze hat wohl jeder, große Begabungen sind selten. Und wer Letzteres hat, muss sich trotzdem ausbilden lassen und lebenslang lernen, vor allem lernen mit seinen Fähigkeiten richtig und nutzbringend umzugehen.

Die am ehesten akzeptierte sensitive Fähigkeit ist laut J. Bösch die Intuition, das innere Gefühl, die innere Gewissheit, z. B. bezüglich einer anstehenden Entscheidung, die das rationale (vernunft-geleitete) Abwägen oft ergänzt, manchmal auch ersetzt. Dem kann wahrscheinlich jeder zustimmen. Zumindest noch teilweise akzeptiert wird das Sich-Einfühlen in andere. Auch diese Begabung findet sich beim einen mehr, beim anderen weniger. In heilenden Berufen natürlich sinnvoll anwendbar.

Komplexer wird es allerdings, wenn man sich in ein Gegenüber einfühlen kann, das man nicht sieht und dessen Lebensgeschichte oder Befindlichkeit man trotzdem spürt. Auch das ist durchaus zweckmäßig und in der Medizin nicht unbedingt selten. Die Betreffenden pflegen aber darüber wenig verlauten zu lassen - aus gutem Grund. Sie nutzen ihre Begabung, lassen sich aber nicht in unnötige Diskussionen oder gar Verdächtigungen verstricken. Manche aus heilenden Berufen, also Ärzte, Psychologen, Schwestern, Pfleger, Ergotherapeuten u. a. finden auch gar nicht, dass sie eine solche Begabung haben, auch wenn sich ihr beruflicher Alltag dadurch meist erfolgreicher gestaltet, vor allem was ihre Arbeit am Patienten anbelangt.

Sensitivität hat also verschiedene Dimensionen, ist unterschiedlich ausgeprägt und liegt - wie erwähnt - in etwa auf der Ebene wie sportliche Begabung oder musikalisches Talent. Nicht mehr und nicht weniger.

Das sollte auch die Erkenntnis erleichtern, dass nicht wenige Propheten, Mystiker usw. sensitiv, aber weder "übernatürliche" Gaben hatten noch "geisteskrank" waren. Das sind nämlich die beiden Extrem-Einschätzungen. Letzteres kann natürlich vernichten, vor allem wenn man sensitive Gaben mit einer Psychose gleichsetzt. Tatsächlich schaffen es auch Durchschnittsmenschen mit bewusster Einstellung, mit Entspannung oder in Trance nach gewisser Übung, was von Natur aus hellfühlenden Mitbürgern tagtäglich passiert, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Sie saugen die Gefühle anderer Menschen um sie herum auf wie ein Schwamm das Wasser, erklärt J. Bösch. Dies hat nebenbei nicht nur Vorteile. Manchmal wird man auch melancholisch, bekommt dadurch unbewusst die Gefühle eines anderen übergestülpt, weiß gar nicht, was mit einem vorgeht, zweifelt an sich selber und seiner Gesundheit - und ist doch nur einem anderen (fast hilflos) "gefühlsmäßig ausgeliefert", wenn man es einmal so beschreiben will.

Ähnliches gilt auch für Schmerzen von anderen Menschen und das wird dann noch peinigender. Also müssen Sensitive lernen, dieses Unbehagen "von sich abfließen" zu lassen, sonst geraten sie aus dem Gleichgewicht. Wem dies öfters droht, also schon aus eigener Empfindlichkeit heraus, der ist natürlich besonders anfällig für solche Negativ-Gefühle von außen, die seinen Gesamtzustand dann auch noch negativ verstärken können. Solche Menschen - so J. Bösch - empfinden sich selber, und werden auch von ihrer Umgebung als besonders "gefühlslabil" eingestuft. Die Medizin bzw. Psychiatrie diagnostiziert sie dann mitunter als "hysterisch", "hypochondrisch", als "labile Persönlichkeiten", "Psychosomatiker" u. a.

Es geht also darum, solche Veranlagungen nicht als Belastung, sondern als Geschenk zu erleben und im positiven Sinne zu trainieren. Intuition heißt ja auch nichts anderes als "innere Belehrung". Manche Menschen, vor allem in der heutigen Zeit, haben aber Angst, dass ihre sensitive Begabung in die Psychose (Geisteskrankheit) führen könne. Einige werden tatsächlich psychotisch und glauben dann ihre Wahrnehmungen seien die volle Wahrheit. Tatsächlich können sich Sensitivität und Psychose auch mal überschneiden. In gewissen schamanischen Einweihungs-Ritualen geht es sogar gezielt darum, "geistig zerstückelt" zu werden. Umgekehrt gibt es auch Berichte, dass jungen Psychotikern mit spirituellem Heilen erstaunlich gut geholfen werden konnte, bestätigt der psychiatrische Facharzt Dr. J. Bösch.

Sensitive ausgrenzen oder durch Forschung besser verstehen lernen?

Warum aber, fragen kritisch eingestellte Menschen, warum weiß man so wenig über Sensitive? Und selbst die Psychiater und Psychologen können darüber kaum Auskunft geben, auch nicht aus eigener Erfahrung, was man eigentlich annehmen möchte. Der Grund ist einfach: Sensitive Menschen reden nicht gerne über diese Eigenschaft. In einer sich aufgeklärt gebenden Welt können sie nur mit Skepsis, Kritik, Missbilligung, Misstrauen oder gar Häme rechnen, jedenfalls im größeren Teil ihres Umfeldes. Doch inzwischen hat sich eine durchaus wirkungsvolle und umfangreiche Selbsthilfe-Szene entwickelt. Dort können die Betreffenden Beratung und sogar Führung erfahren, wenn auch unterschiedlichen Inhalts und nicht immer von gleichbleibender Qualität. Gerade junge und heranwachsende Sensitive scheinen sich stark in dieser Selbsthilfe-Szene Rat zu holen. Der ist allerdings - wie erwähnt - nicht immer abschätzbar. Wenn sie Glück haben, können sie in höchst kompetenter Weise geführt werden; wenn sie Pech haben, werden sie in die Irre geleitet, vielleicht sogar in seelische Störungen gedrängt, gibt der Psychiater J. Bösch zu bedenken.

Und die bisweilen naheliegende Reaktion, vor allem aus ärztlicher Sicht, nämlich die Behandlung mit Psychopharmaka und hier insbesondere die antipsychotisch wirkenden Neuroleptika, vertragen die meisten Sensitiven überaus schlecht.

Zum Glück ändert sich langsam die öffentliche Meinung und dies auch innerhalb weiter Kreise in der Psychiatrie. Die Sensitivität wird nicht mehr ungeprüft, direkt und kommentarlos mit psychischen Störungen in Verbindung gebracht (obgleich hier differentialdiagnostisch durchaus eine kritische Achtsamkeit angebracht ist, das sei zugegeben). Diese Erweiterung des Verständnisses ist umso bedeutsamer, da in der heutigen Zeit des spirituellen Aufbruchs immer mehr Menschen ihre sensitive Veranlagung entdecken bzw. genau so oft recht unsanft damit konfrontiert werden, meinte J. Bösch. Sensitive gibt es inzwischen überall, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jedem Alter und beiderlei Geschlechts. Und es finden sich immer häufiger - natürlich wieder einmal in den in dieser Hinsicht liberaleren, toleranteren und damit auch forschungs-aktiven USA - Pioniere, die vor allem auf eine fruchtbare Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen drängen und sich auch nicht scheuen, mit sensitiven Heilerinnen eine zumindest respektvolle Kooperation einzugehen, wenn sie nur der Sache dient.

Sensitivität diagnostisch und therapeutisch zu nützen lernen

So ist es dringend notwendig, Forschungsprojekte zu fördern, in denen die Erfolge, Misserfolge, Möglichkeiten, Grenzen und Lücken der rationalen (vernunft-geleiteten und meist technisch fundierten) und intuitiven Diagnostik parallel verglichen werden. Oder kurz: Wie weit lässt sich hellsichtiges Verhalten wissenschaftlich erklären, d. h. bestätigen oder widerlegen? Denn wenn die Bestätigung unumstößlich wäre, dann würde auch nichts dagegen sprechen, die bewährten Kenntnisse der alten Ärzte-Generation wieder zu entdecken und zu beleben, erneut fruchtbar und nutzbringend anzuwenden - zum Wohle der Patienten (und das kann Morgen schon jeder von uns werden). Das Stichwort lautet: Kombination und Zusammenarbeit der verschiedenen Diagnose-Wege, um das Tor für ein Intuitions- bzw. Sensitivitäts-Training für junge Ärzte zu öffnen. Denn viele Psychiater (vor allem weiblichen Geschlechts) und Psychotherapeuten jeglicher Fachrichtung (also Psychologen, Soziologen, Theologen u. a.) sind ohnehin schon mehr oder weniger sensitiv veranlagt. Viele (er-)kennen ihre Begabung aber lange Zeit gar nicht und wenn, dann wagen sie zumeist nicht offen dazu zu stehen, geschweige denn sich dazu zu bekennen oder gar damit zu arbeiten. Die Furcht vor Kritik, Ablehnung, Spott oder gar beruflichen Nachteilen lässt diese Begabung verleugnen, sie bleibt verschüttet, und das zu aller Nachteil.

Dabei wird die Intuition und das Einfühlungsvermögen in der Psychiatrie und Psychotherapie gar nicht geleugnet, im Gegenteil, sie wird in vielen Psychotherapie-Ausbildungs-Verfahren zumindest ansatzweise trainiert - meist allerdings unter anderem Namen. Sobald sich eine Verbindung mit Sensitivität oder Medialität herauskristallisiert, grenzen sich aber die meisten Vertreter dieser Fächer ab, bedauert der Psychiater J. Bösch. Dabei ist es weitgehend anerkannt, dass sowohl rationales Denken als auch Intuition im Menschen eine fruchtbare Verbindung eingehen. Die Intuition pflegt am besten dann zu funktionieren, wenn das rationale Denken vorübergehend dispensiert wird, um eben der Intuition Platz zu machen. (Der Begriff dispens bzw. dispensieren ist hierbei gut gewählt, er lautet Entpflichtung, von einer Verpflichtung befreien, gleichsam beurlauben; das rationale Denken wird also nicht unterdrückt oder ausgeschaltet, es wird nur vorübergehend frei gestellt, bleibt in Wartestellung.)

Allerdings sollte im Nachhinein die intuitive Erkenntnis durch eine rationale Diagnose überprüft werden, fordern die Experten.

Der Umstand, dass sich die Fachbereiche Psychiatrie und Klinische Psychologie (also Psychologen, die mit Patienten diagnostisch und therapeutisch arbeiten) so bedeckt halten, hat auch etwas mit ihrer etwa "anfälligen Position" in den naturwissenschaftlich orientierten (Medizin-) Bereichen zu tun. Doch da könnte man von anderen Berufsgruppen lernen, und zwar vom Militär und den Geheimdiensten (z. B. USA und frühere UdSSR) bis zu privaten Unternehmensberatern und sogar rein technisch arbeitenden Institutionen. Dort macht man wenig Aufheben davon, dass die Intuition nicht vernachlässigt wird, im Gegenteil. Dort wird "knallhart" genutzt, was das Leben bietet, und sei es für den Durchschnittsbürger nachvollziehbar oder nicht. Kann sich deshalb die Medizin und hier insbesondere die Seelenheilkunde (Psychiatrie) bzw. Seelenkunde (Psychologie) also leisten, unberührt abseits zu stehen? Darf man diese Entwicklung verschlafen, fragt nicht zu unrecht provozierend der Psychiater J. Bösch. Hätte die westliche Welt nicht die gewaltigen Finanzierungssysteme im Rücken, wie Staat und Krankenkassen sie darstellen, wäre diese Trägheit wohl nicht erlaubt und die Kooperation zwischen Medizin und intuitiven Diagnose- und Heil-Bereichen würde schneller vorankommen.

Sensitive Kinder erkennen und schulen

Dabei - so die Experten - sollte man vor allem auf die junge, noch von Vorurteilen "unverbildete" Generation achten, also sensitive Kinder untersuchen, betreuen und ggf. trainieren. Im Fernen Osten, vor allem in China, scheint dies schon zu funktionieren, was bei einem so riesigen Menschheitsreservoir mit 1,2 Milliarden natürlich auch effektiver ist. Dabei wird allerdings auch klar, wie gering letztlich die Zahl der nachweisbar sensitiven Kinder (und Erwachsenen) ist; man spricht für China von etwa 1000 hochbegabten sensitiven Kindern, was in Relation zu mehr als einer Milliarde Menschen ja fast nicht mehr prozentual ausdrückbar ist. Gleichwohl lässt sich China dieses Potential offenbar nicht entgehen und die Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, gehören zu den höchsten Rängen und haben nicht nur alle Möglichkeiten, sondern auch Ehrungen, die natürlich beflügeln. Was im Rahmen dieser wissenschaftlichen Untersuchungen dann alles möglich sein soll, wirkt auf den Europäer allerdings erst einmal ungewöhnlich bis befremdlich (siehe Kasten).

Die in China ausgewählten und systematisch ausgebildeten Kinder sollen nicht nur mit fast beliebigen Körperteilen Bücher lesen können, sie vermögen offenbar ebenso in verschlossenen Behältern und auf große Entfernungen Großgeschriebenes zu lesen. In gewissen Fällen können diese Kinder sogar mit Gedankenkraft unbeschriebene Zettel in verschlossenen Behältern mit Wörtern oder Sätzen füllen. Auch kann ein Teil dazu ausgebildet werden, nicht nur die eigenen Organe, sondern auch die Organe anderer Menschen geistig zu sehen und zu beschreiben, so wie dies auch im Westen von seltenen sensitiv Begabten beschrieben wird (so genanntes Röntgenblick-Phänomen).

Den Chinesen dürfte es jedoch leichter fallen, sich diesen Fähigkeiten vorurteilslos zu nähern, da die chinesisch-buddhistische Tradition diese Begabungen schon früher genau beschrieben hat. Wenn bei uns die esoterisch Informierten von einem dritten Auge sprechen, so kennen die chinesischen Buddhisten die "fünf Augen der Meisterschaft", die unterschiedliche Entwicklungsstadien repräsentieren, welche in zunehmend höhere Dimensionen führen.

Zu diesen fünf Augen der Meisterschaft gehören u. a. das Sehen bei Dunkelheit und mit geschlossenen Augen, das Sehen auf Entfernung und der Röntgenblick, also die Möglichkeit, innere Organe zu sehen. Und schließlich das "Auge des Dharma", die höchste Stufe mit einer so hohen Energie, dass das Auge in unfassbarer Weise erhellt werden könne. Dieses "Auge des Dharma" ist offenbar mit der Fähigkeit der Materialisierung und De-Materialisierung verbunden. Ein Meister des "Auge des Dharma" könne einen Stacheldraht allein mit seinem Blick durchschneiden und zerbrochene Keramik wieder reparieren.

Die chinesischen Wissenschaftler sprechen mit Stolz und Hoffnung von der chinesischen wissenschaftlichen Revolution und glauben daran, dass diese alt-neue Sichtweise das Bild unserer Wissenschaft grundlegend verändern wird.

Offenbar finden sich die meisten sensitiv hochbegabten Kinder in den ärmsten Provinzen Chinas, während diese Begabungen in reicheren und stärker materiell ausgerichteten, küstennahen Provinzen viel seltener zu finden seien. Man ist offenbar der Ansicht, dass die zu reichliche Ernährung und das materialistische Denken diese Fähigkeiten verkümmern lassen. Aus den gleichen Gründen glauben die Wissenschaftler, dass man im Westen viel weniger solche Kinder finden würde, auch wenn die hiesige Wissenschaft einmal die Scheuklappen abgelegt hätte.

Auszug aus dem Kapitel Spiritualität und Sensitivität des Buches Spirituelles Heilen und Schulmedizin von Jakob Bösch, 2006

Schlussfolgerung

Der Psychiater Privatdozent Dr. med. Jakob Bösch, ausgebildet in einem naturwissenschaftlich orientierten Institut für Hirnforschung, tätig in der Psychiatrischen Poliklinik einer Universität und schließlich Chefarzt in einem Externen Psychiatrischen Dienst mit täglichem Kontakt zu Menschen mit vielerlei Problemen - seelisch, geistig, psychosozial, organisch, psychosomatisch interpretierbar - empfand erst einmal dasselbe wie jeder unbefangene Leser, auch wenn er um Objektivität und neutrales Interesse bemüht ist. Er schreibt deshalb ganz offen: Ich habe zunächst gezögert, diese Schilderung in mein Buch aufzunehmen. Andererseits habe er aber viele ähnliche Phänomene selber gesehen und von vertrauenswürdigen Personen geschildert bekommen. Und er gibt zu bedenken, dass nicht nur die Chinesen, deren Wesensart uns vielleicht nicht so nahe liegt, dieses Phänomen mit Erfolg beforschen, bearbeiten und nutzbar machen, sondern auch die Russen, die auf diesem Gebiet deutlich weiter seien als der Westen. Auch hier werden hauptsächlich Kinder dieser aus slawischen und tibetischen Elementen des Heilens entwickelten Methode ausgebildet.

In dem derzeitigen wissenschaftlichen Klima des Westens bestehe leider noch immer und möglicherweise noch unglücklich lange die Gefahr, den Anschluss an diese neueren Entwicklungen zu verpassen. China und Russland seien vorurteilsfreier und deshalb weiter. In den USA würde man dies - typisch für die dortige pragmatische Einstellung - im Alltag ebenfalls nutzen, ohne sich allerdings groß zu exponieren und damit unnötig Energie in vermeidbare Diskussionen zu vergeuden. Für Europa machen dem Schweizer Psychiater immerhin viele Initiativen zur Förderung von Intuition und Sensitivität außerhalb der Medizin gewisse Hoffnungen. Dort ginge es auch durchaus voran. Allerdings bedeute dies, dass den Ärzten ein weiterer Bereich entgleite.

Eines der nachhaltigsten Probleme, mit denen man im Westen und hier insbesondere in der "Alten Welt", also Europa, zu kämpfen hat, ist offenbar die Unfähigkeit oder zumindest mangelnde Fähigkeit, einen pragmatischen, vorurteilsfreien und damit neuen, offenen Weg einzuschlagen (wobei dieser neue Weg natürlich alt ist, oder wie es J. Bösch ausdrückt: alt-neu). Bei uns, so auch viele Kritiker mit dem notwendigen Überblick, gibt es nur die zwei Pole: Ablehnung oder "Abheben". Näher darauf einzugehen ist nicht nötig, jeder weiß, was gemeint ist.

Vielleicht macht aber eine neue Entdeckung flexibler, toleranter, konstruktiv neugierig und damit experimentell aktiv. Gemeint ist die Erkenntnis, dass die Technisierung unserer Welt im Allgemeinen und der diagnostischen und therapeutischen Medizin im Speziellen zum einen fast nicht mehr bezahlbar ist, zum anderen aber ihre Grenze erreicht zu haben scheint. Selbst wenn sich hier und da noch einiges perfektionieren ließe, eines ist schon heute jedem klar, der mit seiner Krankheit in Praxis oder Klinik vorsprechen muss: Die Seele, das Gemüt und damit der zwischenmenschliche Kontakt werden zunehmend zu einem "auslaufenden Modell". Die einen glauben aus technischer Sicht darauf verzichten zu können, die anderen haben nicht mehr die Kraft, Zeit und auch den Willen, sich hier einzubringen. Und allen, die auf der Patienten-Seite stehen, fällt auf: Hier fehlt etwas, und zwar etwas Wesentliches, was sowohl für das Erkennen als auch Behandeln, ja sogar für das Verhüten von weittragender Bedeutung wäre. Oder kurz: In der Medizin geht der Mensch unter. Daran hat übrigens neben der Überbewertung der apparativen Möglichkeiten auch die überbordende und letztlich nutzlose Bürokratie einen erheblichen Anteil ("niemand will sie, und doch platzt sie aus allen Nähten ...").

Die Frage lautet deshalb: Könnten die jetzt wieder vermehrt diskutierten spirituellen Aspekte nicht nur in ihrem eigenen Bereich, sondern auch generell etwas bewegen, was wir alle zunehmend und weitgehend hilflos vermissen, nämlich die natürlichen Möglichkeiten des Menschen für den Menschen wieder zu entdecken (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).