ZUM THEMA: SEXUELLER SADISMUS
Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung - DGfS (Hrsg.):
STÖRUNGEN DER SEXUELLEN PRÄFERENZ
Steinkopff Verlag, Darmstadt 2007, 60 S., € 13,95. ISBN 978-3-7985-1774-5
Sexuelle Übergriffe sind so alt wie die Menschheit und geschildert und beklagt seit dem es die Schrift gibt (z. B. das Alte Testament). Konkrete sexuelle Störungen daraus abzuleiten ist zwar rückblickend sehr schwer, aber für den Fachmann auch kein Problem. Kurz: Auch sie sind so alt wie die Menschheit.
Wenn man heute die Medien und damit die allgemeinen Diskussionen verfolgt, möchte man meinen, dieses "Übel" habe zugenommen. Darüber ließe sich lange diskutieren, besonders unter zwei negativen Voraussetzungen: Zum einen haben wir keine harten Daten von früher, zum anderen gibt es exakte Diagnosen und Klassifikationen letztlich erst seit dem Ende des letzten, des 20. Jahrhunderts. Zuvor, und das ist noch nicht lange her, konnte man auch aus dem Munde ernsthafter Wissenschaftler, vor allem Theologen, Philosophen, Soziologen, Juristen, aber auch Ärzte und Psychologen lesen ("verwerflich, animalisch, anormal, kriminell"), was uns heute fremd, ja überraschend bis lächerlich anmutet. Oder kurz: Früher gab es sexuelle "Verfehlungen", die man heute längst nicht mehr als solche einstuft, die aber zu ihrer Zeit Ausgrenzung, Verfemung, ja harte Strafen oder gar Tod bedeuten konnten (z. B. Scheiterhaufen). Letzteres liegt übrigens bei weitem noch nicht so lange zurück, wie man sich als aufgeklärter, moderner und toleranter Mensch gerne vormachen würde. Einzelheiten siehe die speziellen Kapitel in dieser Serie.
Eine Störung allerdings hält sich nicht nur in der Allgemeinheit, sondern auch unter ärztlichen, psychologischen und juristischen Experten unverändert bedrohlich - und das leuchtet schon beim Begriff und nicht erst bei näherer Betrachtungsweise ein, heute und in Zukunft. Gemeint ist der sexuelle Sadismus.
Dazu einige kurz gefasste Hinweise aus den Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie für die Störungen der sexuellen Präferenz, entnommen dem Band 8 der Behandlungsleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (PGfS).
Interessant, gleich in der Einleitung, die konkrete Aufgabenstellung heute(!), nachdem es früher nicht nur "moralisch" eng zuging, sondern auch die Wissenschaft "moralisierend" so manches unnötige Leid verursacht hat, was nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch unter den ton-angebenden Experten und wissenschaftlichen Gesellschaften, Institutionen und damit auch Gerichten als gesellschaftlich und juristisch verbindlich erklärt wurde.
So heißt es in der erwähnten Einleitung: "Ein Ziel der Leitlinien ist es, die unterschiedlichen sexuellen Ausdrucksformen des Menschen nicht unnötig zu pathologisieren (also als krank darzustellen) und deren Behandlung auf Formen zu beschränken, die mit direktem subjektiven Leiden der Betroffenen an der Sexualität verbunden sind oder mit eindeutigem Leiden Anderer. Und weiter: Die sexuelle Deviation als soziologisch-statistischer Begriff ist hier ebenso wenig relevant wie die im moralischen Sinne verstandene Devianz.
Es geht also um die sexuelle Präferenz-Störung im Sinne der internationalen und auf psychiatrischem Gebiet entscheidenden Institutionen. Gemeint sind die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer ICD-10 sowie die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) mit ihrem DSM-IV-TR.
Bei Letzteren spricht man von Paraphilie. Das heißt, dass das Leiden an abweichenden sexuellen Phantasien, Bedürfnissen und Handlungen nur dann als Störung definiert wird, wenn es ganz ohne Beziehungs-Objekt abläuft oder die Bedürfnisse des Gegenübers nicht mehr berücksichtigt werden.
Sexueller Sadismus bzw. Sadomasochismus
Einzelheiten zu diesen Begriffen bitten wir wieder den entsprechenden Kapiteln dieser Serie zu entnehmen. Jetzt soll es lediglich kurz gefasst um den letzten Hinweis gehen, nämlich wenn "die Bedürfnisse des Gegenübers nicht mehr berücksichtigt werden". Und dies findet sich vor allem beim sexuellem Sadismus, wie ihn die APA bezeichnet und wie er auch in dem Begriff des Sadomasochismus der WHO konkretisiert wird.
Die Häufigkeit ist schwer abzuschätzen (wie übrigens bei den meisten anderen Störungen der sexuellen Präferenz). Zahlen sind deshalb letztlich überwiegend Spekulation und werden unter den Wissenschaftlern nur mit Vorbehalt diskutiert. Das ist auch nachvollziehbar, besonders beim Sadomasochismus bzw. sexuellen Sadismus.
Die WHO definiert den Sadomasochismus (ICD-10: F 65.5, wie die dortige Klassifikations-Nummer lautet) wie folgt:
Der Sadomasochist benötigt als Erregungs-Voraussetzung das Erleben von (aktiv ausgeübter oder passiv erlittener) Dominanz. Die oft erwünschten Schmerzreize oder das Leiden unterstreichen mehr den Charakter der Unterwerfung als an sich lustvoll zu sein.
Isolierter Masochismus dürfte öfter mit einer sonst eher gehemmt-neurotischen Persönlichkeitsstruktur und Neigung zu Abhängigkeit, Depression und Angst einhergehen, während isolierter Sadismus häufiger in Kombination mit einer antisozialen Persönlichkeit gefunden wird. Etwa 60% der befragten Leser einer einschlägigen SM-Zeitschrift (also für Sadomasochismus) berichteten den gelegentlichen Wechsel von einer Position zur anderen.
Bei Frauen, die eher durch ihre Partner Anschluss an diese Subkultur finden, verteilt sich Sadismus und Masochismus angeblich nicht anders als bei Männern.
Formen des lebensgefährlichen Sadismus sind für weniger als 1% der Tötungsdelikte verantwortlich.
Sexueller Sadismus
Neben diesen, notwendigerweise etwas trocken gehaltenen Erläuterungen gibt es vor allem noch das Phänomen des Schweregrads, was sich besonders beim Sadismus konkret ausdrücken lässt. Der Sadismus beinhaltet ja die Lust am Verletzen von Partner-Interessen. Nun gibt es neben dem eigentlichen sexuellen Sadismus auch noch den so genannten Charakter-Sadismus (also Sadismus als Persönlichkeitsstörung), der sich nicht direkt in sexueller Form, wohl aber in lustvoller Partner-Schädigung äußert. Hier sind dann die Überschneidungen mit dem "reinen" sexuellen Sadismus ganz beträchtlich.
Bei gewalttätigen Straftätern sind auch indirekte Sadismus-Zeichen zu berücksichtigen. Was heißt dies nun konkret, aufgeführt in einer speziellen Tabelle des Buches Störungen der sexuellen Präferenz?
- Unter sexuellem Sadismus versteht die APA in ihrem DSM-IV Folgendes:
- Über einen Zeitraum von 6 Monaten wiederkehrende, intensive sexuell erregende Phantasien, dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, welche (reale, nicht simulierte) Handlungen beinhalten, in denen das psychische oder physische (körperliche) Leiden (einschließlich Demütigung) des Opfers für die Person sexuell erregend ist.
- Die Phantasien, sexuell dranghaften Bedürfnisse oder Verhaltensweisen verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
- Sadismus als Persönlichkeitsstörung nach DSM-III-R:
- Anwendung körperlicher Grausamkeit, um sich in Beziehungen durchzusetzen
- Erniedrigt und beschämt Leute in Gegenwart Dritter
- Hat jemanden, der in seiner Macht stand (z. B. Kind oder Gefangener) ungewöhnlich hart behandelt oder bestraft
- Amüsiert sich an seelischen oder körperlichen Leiden Anderer
- Hat gelogen in der Absicht Anderen zu schaden oder Schmerz zuzufügen
- Bringt andere Leute dazu, das zu tun, was er will, indem er ihnen Furcht einflößt
- Beschneidet die Freiheit von Menschen, mit denen er/sie eine enge Beziehung unterhält
- Ist fasziniert von Gewalt, Waffen, Kampfsportarten, Verletzung oder Folter
Um eine solche Diagnose stellen zu können, müssen vier der obigen acht Symptome gegeben sein.
- Forensisch diagnostizierter Sadismus:
Kriterien A (ein Kriterium genügt für eine positive Diagnose von Sadismus):
- Phantasien von gleichzeitig aggressivem und sexuellem Inhalt
- Steigerung der sexuellen Erregung durch Furcht oder Schmerz des Opfers
- Symbolisch sadistische Handlungen
- Drehbuchartig ritualisierte Gewalt in den Delikten
- Sexueller Verkehr mit dem toten Opfer
- Verstümmelung erogener Zonen getöteter Opfer
Kriterien B (Vorliegen von zwei Kriterien zur Diagnosestellung notwendig):
- Gewalt gegen erogene Zonen
- Zufügen von Verbrennungen
- Sexueller Verkehr mit bewusstlosem Opfer
- Schmerzhaftes Einführen von Gegenständen in Vagina oder Anus des Opfers
- Verwendung von Fäces (Kot) und/oder Urin zur Erniedrigung des Opfers
Zusätzliche Krankheitsbilder
Ein besonderes Problem ist - wie übrigens bei vielen seelischen Krankheitsbildern auch - die so genannte Komorbidität, oder auf Deutsch: wenn eine Krankheit oder Störung zur anderen kommt. Das ist ein erschwerender Faktor, dem vor allem in letzter Zeit vermehrt wissenschaftliches Interesse zukommt, nicht zu Unrecht.
Beim Sadismus im Allgemeinen und sexuellen Sadismus im Speziellen können(!) folgende zusätzliche Krankheitsbilder eine Rolle spielen: psychoorganische Beeinträchtigung (hirnorganische Störungen), Minderbegabung, schizophrene Psychose, Depressionen und manische Hochstimmungen, vor allem aber dysphorische Zustände (Langzeit-Missstimmungen), Zwangsstörungen, Angststörungen, Suchtkrankheiten, das Phänomen der Impulsivität (so genannte Impulshandlungen, bei denen auch Gewaltanwendung eine Rolle spielt), die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und insbesondere die Persönlichkeitsstörungen (Borderline-, antisoziale, narzisstische, aber auch schizoide, schizotypische, zwanghafte und sogar ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörungen).
Einzelheiten siehe die speziellen Beiträge in dieser Serie.
Was kann man tun?
Die Therapie ist ein Kapitel für sich. Denn ähnlich wie bei der Sucht kommt es bei Störungen der Sexualpräferenz nur selten ohne äußeren Druck zur Behandlung. Einzelheiten siehe die Fachliteratur. Als Stichworte aber gelten vor allem die kognitive Verhaltenstherapie, die psychodynamische Therapie, bestimmte Medikamente (z. B. Antidepressiva vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) sowie spezifische Arzneimittel mit Wirkung auf eine "entgleisungsgefährdete" Sexualität. Dabei spielt natürlich die jeweilige Störung eine entscheidende Rolle und es bleibt zumeist den dafür spezialisierten Ärzten und Psychologen vorbehalten, hier die richtige Wahl zu treffen und vor allem den dafür notwendigen langen Atem aufzubringen (s. o.).
Schlussfolgerung
Das kleine, aber inhaltsdichte Taschenbuch Störungen der sexuellen Präferenz im Rahmen der Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie ist selbstverständlich ein Buch für Experten, d. h. Ärzte (hier vor allem Psychiater, Nervenärzte, Ärzte für Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin u. a.) sowie Psychologen und ggf. Juristen, Sozialarbeiter u. a. mit spezifischen Aufgaben. Dem interessierten Laien aber vermittelt es insbesondere einen Einblick in die komplexe und von der "emotionalisierten Allgemeinheit anlässlich entsprechender Übergriffe" kaum durchschaubaren Materie eines Phänomens, das zwar - wie gesagt - so alt ist wie die Menschheit, aber eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten eine adäquate objektive und vor allem fundierte Beurteilung fand (VF).
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