G. D. Ruf:
SYSTEMISCHE PSYCHIATRIE
Ein ressourcenorientiertes Lehrbuch
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005 308 S., € 34,00. ISBN 3-608-94154-1
Titel und Untertitel wecken Interesse, machen neugierig, auch den Fachmann. "Systemisch und vor allem ressourcen-orientiert" lassen hoffen. Denn - wie der Autor in seiner Einleitung ausführt - "wer in psychiatrischen Institutionen arbeitet, kennt das Gefühl, von Patienten oder Klienten bedrängt, vereinnahmt oder verwirrt zu werden". Und weiter: "Bei der Berufswahl (...) haben soziale Motive des Helfens (...) eine Rolle gespielt. Doch "der Praxisschock" beim Berufseinstieg zeigt schnell die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten im Dschungel der gesellschaftlichen und institutionellen Aufträge und angesichts von Patienten mit "schlechter Compliance", die entweder Hilfsangebote zurückweisen und unterlaufen oder sich an den "hilflosen Helfer" klammern, bis sich dieser völlig ausgelaugt fühlt". Und in der Tat, das vielleicht belächelte, aber als heimlicher Schwelbrand unserer Zeit und Gesellschaft drohende "Burn out-Syndrom" unterstreicht diese Erkenntnis.
Zu diesem Gefühl des Ausgelaugtseins trage das gängige psychiatrische Krankheitsverständnis bei, fährt der Autor fort. Es reicht vom Defizit im Gehirnstoffwechsel über die Struktur- oder Lern-Defizite der Psyche bis zum derzeitig favorisierten Vulnerabilitäts-Stress-Modell, leuchtet uns manchmal ein oder auch nicht, vermittelt Hilfe oder lässt ratlos zurück, kurz: Der Alltag in Klinik und Praxis ist für den seelisch Tätigen nicht ohne eigene Nöte.
Dieses Krankheitsverständnis aber schränke den professionellen Helfer ein, unnötigerweise. Denn wenn man - so sein Urteil - die zirkulären Rückkopplungsprozesse nicht nur im biologischen, sondern auch im psychischen und sozialen Bereich suche und nutze, ergebe sich eine neue Perspektive für psychische Störungen. Dies sei die von der Psychiatrie vernachlässigte kybernetische Sichtweise, die in diesem Falle erlaube, sowohl das Selbstverständnis als Helfer als auch unsere therapeutischen Möglichkeiten zu verändern.
Wer diese Sicht akzeptiert, wird auch in ressourcen-orientierter Hinsicht fündiger. Denn jetzt erscheine ein Symptom nicht mehr nur als Ausdruck eines Defizits, sondern als ein Phänomen, das in der Einbindung in zirkulären Prozessen Sinn macht. Und das neben Leiden auch Gewinn bringt (siehe der "sekundäre Krankheitsgewinn") durch die Stabilisierung des Systems.
Die systemische Therapie zielt nun darauf ab, diese zirkulären Prozesse zu verändern, ja zu stören. Damit kann sich der Patient in verschiedenen Bereichen neu organisieren, um bessere Lösungen für seine Probleme, um einen konstruktiveren Lebensweg und eine zukunfts-orientierte Strategie zu finden, die mit weniger Leiden und einem anderen, neuen Gewinn verbunden sind. Diese therapeutische Interaktion wird also von der Suche nach besseren Lösungen geprägt, und nicht - wie der Autor anmahnt - von einem "Ziehen" in eine Richtung, in die der Patient vielleicht gar nicht gehen möchte. Denn der Kranke, dessen Autonomie gewürdigt wird, wählt die aus seiner Sicht beste Lösung. Dadurch gewinne die Behandlung eine Leichtigkeit, die nicht nur positiv zur Schwere konventioneller therapeutischer Vorgehensweisen stehe, sondern nebenbei auch ein probates Mittel zur Burnout-Prophylaxe beim Helfer werden könne.
Das zu den Begriffen "systemisch" und "ressourcen-orientiert". Und diese Perspektive ist es nun, die das gesamte Lehrbuch der Psychiatrie von Dr. Gerhard Dieter Ruf durchzieht, einem niedergelassenen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie und Experten für systemische Therapie (ITST, SG). Dabei vernachlässigt er die empirischen Befunde der Hirnforschung und der biologischen Psychiatrie durchaus nicht, sondern versucht die Ergebnisse systemischer und anderer psychotherapeutischer Forschung mit ihnen sinnvoll zu verknüpfen (was nicht nur zur Behandlung nutzbar ist, auch in alltäglichen Handlungen gewinnbringend eingesetzt werden kann).
Das Fachbuch nimmt sich also dieser komplexen Aufgabe nicht nur theoretisch, sondern auch praxis-bezogen an, erläutert durch zahlreiche Fallbeispiele aus der Klinik- und Praxis-Erfahrung des Autors. Das erleichtert das Studium. Denn zum einen ist dieses Werk nicht einfach zu lesen. Wenn es als "Lehrbuch" genutzt werden soll, dann für Fachkräfte im Rahmen ihrer Spezialisierung. Als Grundlage für die Weiterbildung des Assistenten oder gar zur Ausbildung des Studenten dürfte es zu speziell sein und vor allem das Grundlagen-Wissen psychiatrischen Arbeitens voraussetzen. Und es ist auch für den Fachmann nicht ganz einfach zu verwerten (was auch auf den wissenschaftlichen Anspruch des Autors zurückgehen soll, jedenfalls lässt sich das aus dem Geleitwort (des ehemaligen Vorgesetzten oder Lehrers?) heraus lesen.
Trotzdem ist es eine interessante, wichtige und wertvolle Ergänzung, eingeteilt in Grundlagen, Störungen des biologischen und sozialen Systems in genereller und schließlich spezieller Hinsicht, was eine große Zahl von psychischen Störungen anbelangt (also nicht allen, auch das muss man akzeptieren, wenn man den Begriff "Lehrbuch" zugrunde legen will). Und so schließen auch wir uns den abschließenden Wünschen des Geleitwortes an: Dieses Buch "kann helfen, dass in den Sprechzimmern wieder gesprochen wird, dass wieder den Phänomenen entsprechend angemessen und nach Sinn suchend miteinander gesprochen wird und nicht länger nach verwirrten Molekülen gesucht werden muss. Nicht zuletzt kann dieses Buch aber auch einen Beitrag dazu leisten, den psychiatrischen Praktiker zu orientieren, ihm zu einem (Selbst-)Verständnis zu verhelfen und Vorgehensweisen zu ermöglichen, die in diesem unmöglichen Beruf leichter überleben lassen, vielleicht sogar dazu beitragen können, ein wenig Spaß an diesem Beruf zu haben, was nicht das geringste wäre" (VF).
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