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W. Blanz, H. Remschmidt, M. H. Schmidt, H. Warnke:
PSYCHISCHE STÖRUNGEN IM KINDES- UND JUGENDALTER
Ein entwicklungs-psychopathologisches Lehrbuch
Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2006. 566 S., 7 Abb., € 99,00.
ISBN 3-7945-2175-7

Manchen psychiatrischen Publikationen und sogar Lehrbüchern wurde früher vorgeworfen, in Relation zu anderen medizinischen Disziplinen und ihren Angeboten in Wort und Schrift weniger konkrete "Darstellungskraft" aufzuweisen. Einige Kritiker wurden noch deutlicher: "Hier wird auf höherer Ebene viel gefaselt ..." (Zitat). Den Kinder- und Jugendpsychiatern ist es dabei bisweilen nicht viel anders gegangen. Und auch die Psychologen hatten keinen Grund zur Schadenfreude (mit Ausnahme der mehr psychophysiologisch tätigen). Kurz: Das Urteil über die "Psycho-Fächer" fiel früher nicht immer wohlwollend aus; ob es so einseitig zutraf, ist eine andere Frage. Dass es dafür schon Beispiele gab, beweist ein Blick in das "modernde Antiquariat"; lange suchen muss man nicht.

Das hat sich geändert, gründlich sogar. Die Psychiatrie hat zumindest in ihren Büchern, die vor allem Lehrzwecken dienen, und davon gibt es inzwischen rund zwei Dutzend, zu einem klaren Informationsstil gefunden. In einigen ton-angebenden angelsächsischen Werken kommt er inzwischen so trocken herüber, dass man sofort verspürt: Das ist eine Kipp-Reaktion, Lesevergnügen verboten. (Glücklicherweise gibt es aber auch wieder vermehrt wissenschaftlich fundierte und zugleich "literarisch" ansprechende Beispiele - das Karussell dreht sich immer schneller ...)

Die älteren kinder- und jugend-psychiatrischen Werke hatten - wie erwähnt - nun ebenfalls ihre liebe Not, einen ja ohnehin schwierigen Inhalt nüchtern-streng zu vermitteln, zumal gerade dort und schon sehr früh die therapeutische Seite von verschiedenen medizinischen, psychologischen und para-medizinischen Disziplinen gestellt wurde. Der Wunsch nach praxis-relevanter und damit in der Regel allgemein-verständlicher Aufklärung (Eltern, Lehrer usw.) ließ dann gerade auf diesem Gebiet wieder eine Ratgeber-Literatur erblühen, die die Experten zwar vom Umsatz her neidisch werden lassen konnten, aber glücklich waren sie oft genug darüber nicht. Inzwischen hat sich das Angebot einfach verbreitert. Es gibt nach wie vor hoch-wissenschaftliche Publikationen, von der tiefenpsychologisch-analytischen Ecke bis zum psycho-physiologischen Pol, es gibt die erwähnte Ratgeber-Literatur auf jedem Niveau (darunter aber auch sehr einprägsame und gleichzeitig wissenschaftlich seriöse Angebote), es gibt Lehrbücher unterschiedlichen Lehr-Stils (auch hier inzwischen mehr denn je) - und es gibt ein neues Lehrbuch, das den Entwicklungs- und Verlaufsaspekt zum maßgeblichen Einteilungskriterium macht. Das ist nicht neu und wurde auch schon in deutscher und englischer Sprache in entsprechenden Handbüchern angeboten (z. B. "Psychiatrie der Gegenwart", 2000 in deutscher und 2001 in englischer Sprache), scheint uns aber hier zu Lande in dieser Form die erste übersichtliche Zusammenfassung aus einem Guss zu sein.

Der Beweggrund ist einfach, naheliegend, ja zwingend zugleich: Auch und vor allem psychische Störungen und Normvarianten äußern sich in den verschiedenen Entwicklungsstadien eines Lebens unterschiedlich. Deshalb verlangen sie auch eine entsprechend individuelle Beurteilung und ggf. Intervention. Das leuchtet ein, zum Beispiel:

- Die gleichen Symptome und Syndrome (also zusammengehörigen Krankheitszeichen) entwickeln in den verschiedenen Altersstufen ganz unterschiedliche Ursachen, Bedeutungen und sogar Symptom-Variationen. Man denke nur an Ess-Störungen im Säuglingsalter, beim Heranwachsenden oder Erwachsenen.

- Dagegen gibt es psychische Störungen, die sich nur oder überwiegend im Kindes- und Jugendalter finden (z. B. Tics, Einnässen, Einkoten) und sich später wieder weitgehend verlieren.

- Im Weiteren haben viele seelische Störungen des Erwachsenen-Alters Vorläufer im Kindes- und Jugendalter. Das ist wichtig für Verständnis, Diagnose, Therapie und Prävention gegen Rückfälle. Beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom beispielsweise stellt sich das Problem weniger, beim inzwischen medien-trächtigen und allseits verunsichernden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) hingegen sehr wohl. Gerade hier muss man auch den Wandel und damit Leidens-Schwerpunkt der Erkrankung entwicklungs-psychologisch erkennen und verstehen lernen.

- Und schließlich - das geht aus dem Gesagten mehrfach hervor -, sind alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen körperlicher, seelischer und psychosozialer Natur ebenfalls entwicklungsbezogen zu sehen. Jede Altersstufe hat ihre eigene Struktur, und wer sie unkorrigierbar und einseitig nur von der falschen Seite betrachtet, macht Fehler - zu Lasten des Patienten.

Deshalb ist dieses entwicklungs-psychopathologische Lehrbuch Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter verfasst worden, wofür vier Ordinarien für Kinder- und Jugendpsychiatrie verantwortlich zeichnen. Es folgt einer sinnvollen Klassifikation nach entwicklungs- und verlaufs-typologischen Aspekten. In über 100 Kapiteln werden Normvarianten psychischer Entwicklungen und psychischer Störungen beschrieben. Dabei erstaunt es schon, auch den Arzt, den Psychologen, die Vielzahl der inzwischen auf seelischem Gebiet arbeitenden Therapeuten jeglicher Disziplin und die sich für solche Fälle interessierenden und deshalb belesenen "Laien" anderer Fachrichtungen, was es alles gibt. Das irritiert erst einmal, macht fast mutlos, lässt das schwere Buch in der Hand wiegen - und seufzend zur Seite legen.

Hier aber kommt einem dann ein weiterer Vorteil dieses Werkes zu Gute: Auch dieses Angebot ist eher trocken gehalten, jedenfalls gemessen an manchen früheren kinder- und jugendpsychiatrischen Büchern (deren lebhaftere Schilderungen dann schon auch ihren Vorteil hatten, das soll nicht bestritten werden). Der Vorteil hier aber ist die Informations-Dichte und die Beschränkung auf das Wesentliche. Anders ist ein Überblick, auch in der jeweils geforderten Detail-Frage nicht zu erlangen. Jedes störungs-bezogene Kapitel beginnt deshalb mit einer Fallvignette und gliedert sich dann in klinisches Bild, Entwicklungs-Psychopathologie, Erklärungs- und Präventions-Ansätze, Diagnose und Differentialdiagnose, Interventionen sowie rechtliche und ethische Hinweise. In gesonderten Abschnitten geht es dann noch um die Diagnostik, um Interventionsmöglichkeiten (z. B. Psychotherapie, Psychopharmakotherapie) sowie Epidemiologie (Häufigkeit), Pathogenese (Krankheits-Ursache) und Prävention.

Oder kurz die Vorteile: Neues didaktisches Konzept mit praxisorientierter Klassifikation, einheitlicher Aufbau und damit gute Nachschlage-Möglichkeiten, systematische Darstellung der häufigsten Krankheitsbilder, ihrer Ursache und Therapie auf gesicherter empirischer Grundlage.

Seelische Störungen nehmen zu und die kinder- und jugendpsychiatrischen Probleme wachsen überdurchschnittlich. Da es sich um die Generation der Zukunft handelt, von deren Gesundheit oder Krankheits-Anfälligkeit unserer aller Wohl und Weh abhängt, ist ein solides Wissen und damit gleichzeitiges und fundiertes Eingreifen geradezu entscheidend. Wenn uns das nicht gelingt, wird es "eng", sagen alle Fachleute, die sich mit gesellschafts-wissenschaftlichen Fragen im weitesten Sinne beschäftigen. Der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt dabei eine Schlüssel-Rolle zu. Dieses Buch sollte uns helfen, dieser verantwortungsvolle Aufgabe gerecht zu werden (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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