Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
WIE DIE GROßSTADT UNS VERÄNDERTUnd wie man das schon vor 200 Jahren beurteilte
Die Vor- und Nachteile der Stadt, insbesondere der Großstadt, sind jedem ihrer Einwohner sattsam bekannt – und auch bei den Landbewohnern kein Geheimnis. Während aber Hektik, Lärm, Abgase, ja sogar der Würgegriff der Reklamen („Lichtverschmutzung“) usw. in der Allgemeinheit häufig diskutiert werden, findet ein anderer Aspekt nur wenig Beachtung. Gemeint ist – populär gesprochen – der Einfluss auf Geist und Seele, insbesondere auf Letzteres. Und damit auf das, was man früher das „Nerven-Leben“ nannte, heute: psychosoziale Gesundheit. Denn dieses „früher“ sollte auch jetzt interessieren. Was geschah eigentlich mit dem Seelenleben ihrer Bewohner, als sich die überschaubaren Städte zu Großstädten entwickelten? Das ist zwar heute nicht viel anders, aber wir haben uns daran gewöhnt, oder besser: wurden daran gewöhnt. Denn für viele gibt es keine Alternativen, keine Ausweichmöglichkeiten und ein Großteil macht sich darüber auch keine ernsteren Gedanken. Wenn man also wissen will, was sich zwischen Großstadt-Einfluss und Individuum abspielt, dann muss man wohl auf die Erfahrungen, Erkenntnisse und damit schriftlichen Berichte zurückgreifen, die vor rund 150 Jahren niedergeschrieben wurden, als sich in der westlichen Welt die heute so gängigen Millionen-Städte entwickelten (in der westlichen Welt, d. h. Europa, denn Metropolen in Großstadt-Dimensionen gab es natürlich schon früher in den großen Reichen dieser Erde, besonders im Osten).
Wer hat sich nun dazu geäußert? Eigentlich müssten es die dafür zuständigen Wissenschaftler sein, z. B. die Anthropologen, Soziologen, Psychologen u. a. Das waren aber damals noch keine etablierten, fest umrissenen Disziplinen, weshalb man auf jene Fachbereiche zurückgreifen muss, die schon früher die Aufgabe der Polyhistoren, also der auf mehreren Gebieten bewanderten Experten wahrnahmen. Und das sind vor allem die Philosophen, Historiker und Literaten (ein gutes Beispiel dafür ist Friedrich Schiller, ursprünglich Mediziner, dessen literarischer Erfolg aber vor allem auf seine großen historischen Kenntnisse zurückging). Einen erfreulichen Einstieg in diese Fragestellung bietet das kleine Bändchen Großstadtlyrik aus Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart 1999, herausgegeben von Waltraud Wende. Auf sie beziehen wir uns in ihrer Einleitung mit dem Titel „Augen in der Großstadt“ – die Großstadt, ein Wahrnehmungsraum der Moderne. Sie schreibt: Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ereignen sich grundlegende Veränderungen der europäischen Welt. Die vor-industrielle, vor-revolutionäre, vor-moderne Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts wird einem beschleunigten und sich ständig überholenden ökonomischen, sozialen und technischen Wandel ausgesetzt. Dieser Zeitraum, den die damaligen Wissenschaftler zwischen 1775 und 1825 festlegten, wird geprägt durch die industrielle Revolution in England und die politische Revolution in Frankreich. Das hat auch Auswirkungen auf die Stadt als Zentrum von Wirtschaft, Politik und Kultur. Vor allem aber als Lebensraum einer immer größer werdenden Zahl von Menschen in einem bis dahin kaum vorstellbaren Maße. Und dies nicht wie früher durch den Wohnsitz des Herrschers geprägt, sonderlich bürgerlich organisiert, also vor allem Handel und Verkehr, was sich nicht zuletzt architektonisch niederschlägt. Dabei ist es das quantitative Ausmaß dieser „Verstädterung“, dass die Konsequenzen vor Augen führt: Wohnte in England 1815 noch etwas mehr als jeder Vierte in einer Stadt mit mehr als 5.000 Einwohnern, ist es ein halbes Jahrhundert später bereits über die Hälfte in einer Stadt mit mehr als doppelt so vielen Bewohnern. In Deutschland und Frankreich setzt die Entwicklung etwas später ein, doch sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch hier mehr als die Hälfte der Bevölkerung Städter (s. Kasten). Neben den industriellen Ballungszentren sind es vor allem die Hauptstädte, die immer mehr Menschen anziehen. London erreicht als erste europäische Metropole (vom antiken Rom einmal abgesehen) bereits 1801 die Millionengrenze, fünf Jahrzehnte später dann zwei Millionen und nach weiteren fünfzig Jahren 4,5 Millionen. Im gleichen Zeitraum vervierfacht sich auch die Einwohnerzahl von Paris und noch schneller die von Berlin (um 1910 rund zwei Millionen). Damit ist die moderne westliche Großstadt geboren: Auf der einen Seite Pluralismus, Simultaneität und Dynamik sowie ein bisher nie gekannter Erlebnisreichtum, auf der anderen aber Vermassung, Anonymisierung, Isolation und Vereinsamung, so Waltraud Wende. Und weiter: Die moderne Stadt ist Höhepunkt gesellschaftlichen, technologischen und industriellen Fortschritts und gleichzeitig Brennpunkt sozialpolitischer, industrieller und ökologischer Fehlentwicklungen. Sie bietet Luxus für die Privilegierten und bedeutet Elend für die sozial Deklassierten. Auch auf psychosozialer Ebene lassen die entsprechenden Folgen nicht auf sich warten: Die mit dem Leben in der Stadt verbundene Befreiung des Einzelnen aus provinzieller Enge wird bezahlt mit zunehmender Komplexität und Unüberschaubarkeit der Lebens- und Arbeitsvorgänge. Städtische Liberalität korrespondiert mit der Versachlichung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Austauschbarkeit des Einzelnen. Warengeglitzer geht einher mit verschärftem Konkurrenzkampf und der Kapitalisierung der Sozialbeziehungen. Kulturvielfalt ist verbunden mit Lärm, Hektik und Gewühl. Das Labyrinth der Großstadt – Pluralitäten, Zwiespältigkeiten und Ambivalenzen – ist auch die Basis für die Instabilität und Schrittmacher permanenten Wandels, so die Autorin, um immer mehr ins Intrapsychische (Innerseelische) vorzudringen: Turbulentes Durcheinander der Wahrnehmungs-Angebote, Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Lebensstile und Zerfall eines geordneten Zusammenhangs begünstigen die Erosion sinnstiftender Orientierungsstrukturen. In dem Maße, in dem die städtische Außenwelt als ungeordnet, widersprüchlich und fragmentarisch erfahren wird, atomisiert und zersplittert auch die Innenwelt ihrer Bewohner. Der Großstädter erlebt sich von Situation zu Situation als aufgespalten in unterschiedliche Rollen, die sich von Augenblick zu Augenblick verändern und den Aufbau ausbalancierter Ich-Identität gefährden. Damit steht der Erfahrungsraum „Großstadt“ exemplarisch für das Lebensgefühl der Moderne, fasst Frau Prof. Waltraud Wende zusammen und zitiert in ihrem lesenswerten Vorwort eine Reihe von „Experten ihrer Zeit“. Der psychische Schutzpanzer des Großstädters Interessant dabei beispielsweise der Soziologe Georg Simmel in seinem Essay über Die Großstädte und das Geistesleben (1903). Ihn interessierte schon damals die mit dem Wahrnehmungs-Raum „Großstadt“ verbundene Reizflut auf die Selbst- und Fremd-Wahrnehmung der in ihr lebenden Menschen. Konkret: Der Einfluss der ungewohnten Schnelligkeit städtischen Lebens und die Bewusstseins-Aktivität des Großstadtmenschen. Seine Schlussfolgerung schon vor über 100 Jahren: Die undurchschaubare, verwirrend-verworrene Welt der plötzlichen Eindrücke bewirke eine Steigerung des Nervenlebens. Die permanente Überlastung der Sinnes-Wahrnehmung des Großstadtmenschen durch das Reizklima Großstadt habe zur Ausbildung eines psychischen Schutzpanzers geführt, offenbar schon damals. Diesen Schutzpanzer sieht er in einer „Verstandesmäßigkeit“, die – wie die körperliche Außenhaut – die Seele des Großstädters gegen ein Zuviel an Außenreizen abschirme. Und weiter: Die mit der großstädtischen Reizflut verbundene chronische Überstrapazierung des leicht erregbaren Seelenlebens werde mit Hilfe des beweglicheren, anpassungsfähigeren und unempfindlicheren Intellekts therapiert. Dieser wird von G. Simmel als überlebensnotwendiges Distanzierungs-Instrumentarium interpretiert. Oder auf Deutsch: Der Großstädter passe sein Seelenleben den Großstadt-Bedingungen an – notwendigerweise. Und wie tut er das? Die Antwort des Soziologen von damals ist zwar wenig schmeichelhaft, hat aber auch heute noch ihre Bedeutung, zumindest teilweise:
Mit Ausnahme des Begriffes „blasiert“, der nebenbei in dieser Serie mit einem eigenen Kapitel erläutert wird, sind alle anderen Charakterisierungen gut verständlich – aber auch negativ, fast eine Art charakterliches Defizit. Doch Georg Simmel will dies nicht als Vorwurf allein verstanden wissen, vielmehr als habituelle (gewohnheitsmäßige) Schutzmaßnahme zur Vermeidung eines seelischen Desasters, einer „Seelen-Katastrophe“. Nun wird der moderne Mensch vielleicht sogar schmunzeln, dass dies alles aus der damaligen Reiz-Überflutung resultieren soll, die – mit heute verglichen – wohl noch recht moderat gewesen sein dürfte. Doch G. Simmel ist Soziologe genug, um schon vor 100 Jahren Faktoren mahnend anzuführen, die auch heute noch gnadenlos gängeln, nämlich Geldwirtschaft (wie das damals genannt wurde) und die damit verbundenen Versachlichungs-, Nivellierungs- und Ent-Individualisierungs-Prozesse. Oder auf Deutsch: Nicht zuletzt die Wirtschaft mit ihren Bedingungen, ja eigenen Gesetzmäßigkeiten macht aus einem Menschen einen nüchternen, relativ einheitlich anzutreffenden Charakter, dem jede Individualität, d. h. Neigung zu persönlicher, eigenständiger Lebensgestaltung ausgetrieben wurde. Und das schon vor über 100 Jahren. Die Folgen waren also schon vor einem Jahrhundert bekannt, dass nämlich diese Individualität des Einzelnen, das Wahrgenommen-werden-durch-Andere und das Sich-von-anderen-Unterscheiden nirgendwo so bedroht ist wie in der großstädtischen Waren- und Massengesellschaft. Oder konkret: Die Vielzahl der Menschen, die Kürze und Seltenheit persönlicher Begegnungen, die Flüchtigkeit und Beliebigkeit, der Wechsel und die damit verbundene Oberflächlichkeit der Sozial-Kontakte, die Abstumpfung gegen Unterschiede und der Waren-Charakter der Ding- und Sozial-Welt reduzieren die Bedeutung des Einzelnen, der nicht mehr als unverwechselbare Persönlichkeit, sondern häufig nur noch als übersehbares „Staubkorn“ wahrgenommen wird, so der Soziologe. Das heißt aber auch, dass die Mehrzahl in der Masse unterzugehen droht, wenngleich natürlich nicht alle. Wie aber versuchen sich Letztere zu wehren? Georg Simmel bringt etwas zur Sprache, was heute vor allem mit dem Begriff des Narzissmus umschrieben wird, und zwar ständig und unangenehm wachsend. Er schreibt: Um dennoch eine individuelle Kontur zum Ausdruck zu bringen, müsse eine ausgeprägte Selbst-Darstellung inszeniert werden: Das verführe dann aber schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten, zu den spefizisch-großstädtischen Extravaganzen des Apart-Seins, der Kaprice und des Pretiösentums. So der Wortschatz von damals, heute übersetzt mit apart: mit persönlichem Stil auftretend, kapriziös: launenhaft, eigenwillig und pretiös: geziert, geschraubt, gekünstelt. Das hört sich jetzt nicht erfreulich an, doch verkennt der Soziologe auch nicht die Vorteile, die der Großstadt-Mensch genießt (auch wenn er sie wohl nur selten wahrnimmt). So G. Simmel: Denn obwohl sich der Einzelne „unter Umständen“ nirgend so einsam fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl, gewähren doch Versachlichung der Sozialbeziehungen, Objektivierung und Rationalisierung, Zurückhaltung, Gleichgültigkeit und Anonymität auch ein neues – bisher noch nicht dagewesenes – Maß an individueller Freiheit und einen neuen dynamisierten Lebensrhythmus. Müssen wir die Erkenntnisse eines Soziologen vor 100 Jahren ernst nehmen, was seine gesellschaftlichen, vor allem „Großstadt-psychologischen“ Überlegungen anbelangt? Ja, solche Erkenntnisse an der Schwelle einer neuen, (Wohn-)Zeit sind wertvoll – und werden im Übrigen von den heutigen Repräsentanten einer modernen Stadt-, Regional- und Siedlungs-Soziologie und Demographie für Planen, Bauen und Umwelt wieder sehr ernsthaft diskutiert und genützt (siehe Literatur-Hinweis). Das kaleidoskopische Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Sinnes-Eindrücke Auf einer anderen, eher literarischen, vor allem aber psychologisch hervorragend beobachtenden Ebene wird man auf das Großstadt-Phänomen durch den heute noch bekannten, vielfach begabten, vor allem aber scharfzüngigen Philosophie-Professor Georg Christoph Lichtenberg aus Göttingen konfrontiert, der schon 1775 die Großstadt-Szenerie der damals einzigen wirklichen Großstadt schilderte, nämlich London, wo er auch beruflich tätig war. Er beschreibt ein kaleidoskopisches Neben- und Durcheinander unterschiedlichster Sinnes-Eindrücke, gefangen genommen von den verführerischen und verwirrenden Wahrnehmungs-Reizen der Großstadt-Straßen, überwältigt von der Illumination (Beleuchtung) der Läden, begeistert von der ästhetischen Präsentation der Waren und berauscht von dem kunterbunten Gemisch der Menschen. Oder wörtlich: Dem ungewöhnten Auge scheint alles wie ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen sie still, Bums! läuft ein Packträger wider sie an und ruft „by Your life“, wenn sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Straße rollt Chaise hinter Chaise (veralteter Begriff aus dem Französischen für einen halbverdeckten Wagen), Wagen hinter Wagen und Karren hinter Karren. Durch dieses Getöse, und das Summen und Geräusch von Tausenden von Zungen und Füßen, hören sie das Geläut von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tambourinen englischer Savoyarden und das Heulen derer, die an den Ecken der Gassen unter freiem Himmel Kaltes und Warmes feil haben. Diese visuelle (optische), akustische und taktile (Berührungs-)Nähe des Großstadt-Getriebes, diese Hektik, Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit sind dem Autor eine „Wahrnehmungs-Zumutung“, da sie zu Distanz-Verlust und Souveränitäts-Einbussen führen. Oder auf den Alltag übertragen: Man muss(!) sehen, riechen, hören und spüren, was man gar nicht will, es wird einem in der Menge aufgezwungen. Die Distanz zum anderen geht verloren. Man ist nicht mehr sich selber. Kurz: Nur noch ein Bestandteil der Masse. Kein Wunder, so G. F. Lichtenberg schon vor bald 250 Jahren, dass damit auch eine moralische Indifferenz (Gleichgültigkeit, populär: „Wurstigkeit“) droht, in der beispielsweise auch Diebstahl und Prostitution gebahnt werden. …erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz Nicht viel besser geht es anderen Dichtern und Geistesgrößen der damaligen Zeit, wie beispielsweise Karl Philipp Moritz, der einen emotional unterkühlten Leichenzug in London schildert („fortgetragen, als ob er gar nicht zu den übrigen gehört hätte“). Oder Heinrich Heine, promovierter Jurist und wohl berühmtester Dichter seiner Zeit, wenn auch unglücklich im selbst gewählten Exil von Paris sterbend: Auch er beklagt die mangelnde Geborgenheit in London (was in Paris nicht viel anders gewesen sein dürfte – s. u.) und betont, dass das Leben in der Überschaubarkeit deutscher Kleinstädte „traumhaft gemach“ (gemach = alter Begriff für ruhig, gelassen, „heimelig“ usw.) und um vieles „wohnlicher“ sei als das Leben in London: „Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Fantasie und zerreißt das Herz. Und wolltet ihr gar einen Poeten hinschicken, einen Träumer, der vor jeder einzelnen Erscheinung stehen bleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder einem blanken Goldschmiedeladen – oh! dann geht es ihm recht schlimm und er wird von allen Seiten fortgeschoben oder gar mit einem milden „God damn!“ „niedergestoßen“. Das Großstadt-Erleben Heinrich Heines – mit Akzentuierung auf Fremdbestimmung, Abhängigkeit, Normierung und Partikulariserung – macht deutlich, dass menschliche Individualität angesichts der Erfahrungswelt „Großstadt“ im Schwinden begriffen ist. Fülle und Dichte des Großstadt-Erlebens sind überwältigend, werden aber als beängstigende Bedrohung für das eigene Ich empfunden, so W. Wende in ihrem Vorwort. Und wie es nur der Dichter ausdrücken kann: „Schon genug gesehen und gehört, aber noch keine einzige klare Anschauung. London hat all meine Erwartungen übertroffen in Hinsicht seiner Großartigkeit, aber ich habe mich selbst verloren“, so Heinrich Heine. Man geht aneinander vorüber Und noch deutlicher der berühmte, wenn auch unglücklich endende deutsche Dichter Heinrich von Kleist über Paris 1801: „Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalten Schornsteinen, ein wenig von den Thuillerieen, und lauter Menschen, die man vergisst, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzig, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen und dabei tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihres Gleichen. Ehe man eine Erscheinung erfasst hat, ist sie schon von zehn anderen verdrängt“. Es müssen eben Dichter-Begabungen her, um so plastisch die Großstadt-Konsequenzen Unwirklichkeit, Gleichgültigkeit und Gefühlskälte zu schildern, gleichsam eine permanente zwischenmenschliche Nicht-Wahrnehmung, wie W. Wende es zusammenfasst. Das strudelnde Menschengewimmel Auch der Dichter Friedrich Hebbel war überwältigt von den schockierenden Kontrasten der Großstadt, die ihn faszinierten und zugleich erschreckten, vor allem Paris: „In ihr drängt sich zwar nicht eine Welt, aber doch so viel von der Welt zusammen, als ein Mensch mit seinen Organen auf einmal in sich aufzunehmen vermag“. Hebbel liebte aber trotzdem – „trotz des physischen und moralischen Schlammes, an dem sie reich ist“ – in seinen Reiseberichten 1851 die Seine-Metropole. Auch der Schriftsteller, Historiker und Politiker Ernst Moritz Arndt zeigte sich betört von dem Chaotischen und Sinne-Verwirrenden des Pariser Alltags, wobei er sich vor allem dorthin gezogen fühlte, wo der meiste Staub und das größte Gewimmel war: „Das gewaltig strudelnde und glänzende Menschengewimmel, das Brausen und Sausen der Freude, die prächtige und wiederschimmernde Erleuchtung machen das Ganze gleichsam zu einem Karneval oder einer Maskerade. So schwimmt man geblendet an Augen, betäubt an Ohren, gelockt, gezupft, gerufen von allen Seiten, in dem Wirbel mit um“. Der durch Werbung entführte Blick In seinen Schilderungen aus Paris weist auch der Schriftsteller Ludwig Börne (1837 in Paris verstorben) vor allem auf die „sinnlichen Mittel“ hin, mit denen der Konsum, die Kauflust schon damals angestachelt werden sollte: die Beschriftung der Läden, die zehnfache Wiedergabe nicht nur der Namen der Kaufleute, sondern auch ihrer Waren, die die ganze Außenseite der Läden bedeckt, dazu die manchmal vom dritten Stock bis zum Pflaster herabhängenden Stoffbahnen u. a. Und Börne beklagt mit Recht, was auch heute die Werbe-Psychologen arrangieren, aber auch zugeben müssen: Durch die Vielzahl der Wahrnehmungs-Angebote werden die Augen einem wie gewaltsam entführt, man muss hinauf sehen und stehen bleiben, bis der Blick zurückkehrt. Wie wahr: Wer heute durch eine Geschäftsstraße geht, schafft es kaum, von den Auslagen wegzukommen und vielleicht einen Blick auf die schön restaurierten historischen Giebel zu werfen, auf architektonische Motive (es sei denn er ist Fotograf und auf dieser Ebene ebenfalls ein Getriebener…). Ludwig Börne spricht deshalb auch vom „entführten Blick“, veranschaulicht damit das Ausgeliefert-Sein der Sinnesorgane – und damit letztlich des gesamten Menschen. Das mit der Großstadt konfrontierte Individuum verfüge nicht eigenmächtig über seine Wahrnehmungs-Organe, nein, die Wahrnehmung werde dominiert von der äußeren Ding-Welt. Nicht das wahrnehmende Subjekt (also der Mensch), sondern die wahrgenommene Objekt-Welt bestimme die Art und Weise, in der wahrgenommen wird. Und dann ein Satz, typisch für den psychologisch versierten, sozialkritischen, aber immer noch dichterisch verbundenen Ludwig Börne: Die Dominanz der Außenwelt-Reize bewirkt die Ent-Mächtigung und Ent-Autonomisierung der wahrnehmenden Subjekte. Oder kurz: Man ist nicht nur mehr Herr seiner Sinne (Sehen, Hören, Riechen und Berühren), sondern wird ständig gegängelt – und merkt das vielleicht nicht einmal mehr, zumindest heute. Literatur Grundlage vorliegenden Beitrags ist das Vorwort aus Waltraud Wende (Hrsg.): Großstadtlyrik. Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart 2006 Dort auch die Monographien und Sammelbände der zitierten Georg Simmel, Georg Friedrich Lichtenberg, Karl Philipp Moritz, Heinrich Heine, Heinrich von Kleist, Friedrich Hebbel, Ernst Moritz Arndt und Ludwig Börne. Sehr empfehlenswert auch die Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament über Architektur der Gesellschaft mit interessanten Beiträgen von Sozialwissenschaftlern und Stadtplanern (APuZ 25/2009). |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |