Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
ZUR PSYCHOLOGIE DES BLÖDELNS"Albernheit - man muss Geist haben, um ihn aufzugeben..."
Man kommt nicht um den deprimierenden Eindruck herum: Wenn einem etwas ausgetrieben wird "in dieser unserer Zeit und Gesellschaft", sind es Gelassenheit, Fröhlichkeit, Heiterkeit und Humor. Stattdessen breitet sich zunehmend eine missliche Verdrießlichkeit, Reizbarkeit, ja dysphorische Dauerverstimmung aus. Natürlich ist dies jetzt eine einseitige Beurteilung, ja Verurteilung und keiner würde dies so global unterschreiben. Aber es gibt Perioden in jedem Alltag, wo einem zumindest der Verdacht aufkommt, daran könnte etwas wahr sein. Das ist nicht nur traurig, das ist sogar riskant bis gefährlich. Denn von der Stimmung, ob jetzt positiv oder negativ, hängt auch weitgehend die Leistungsfähigkeit ab. Und die ist inzwischen das Maß aller Dinge. Entweder man bringt's, oder man bringt's nicht, und zwar immer dichter, häufiger, stress-voller, unbefriedigender, belastender, schließlich dem heimlichen Schwelbrand des "erschöpft-verbittert-ausgebrannt" ausgeliefert: Es sieht nicht gut aus und es muss etwas geschehen. Aber was? Noch nie gab es so viele Empfehlungen, Angebote, ganze Maßnahmen-Kataloge, wie man sich den täglichen Ärger vom Leib hält und eine gelassene bis heitere und vor allem dauerhafte gute Stimmung bewahrt. Zeitungen, Zeitschriften, Magazine und Buchhandlungen sind voll davon, Funk und Fernsehen räumen entsprechenden Sendungen immer mehr Platz ein. "Professionelle Helfer" an allen Ecken und Enden (in der Regel nicht ganz billig). Ärzte und Psychologen stellen sich immer mehr auf Erschöpfungs-, Überforderungs-, Konflikt- und neuerdings auch Verbitterungs-Syndrome ein. Doch es harzt, wenn es um die Stimmung, vor allem aber um die erwähnte Gelassenheit, Heiterkeit, um Frohsinn und Humor geht (Letzteres bitte nicht mit den üblichen Angeboten in den Medien verwechseln). Man kann aber mit einigem Glück auch brauchbare "Nadeln im Heuhaufen" finden. Sie sind zugegebenermaßen nicht sehr häufig und in marktschreierischer Hinsicht meist so zurückhaltend, dass einem das Glück die Hand führen muss, will man auf sie stoßen. Ein "Lach-Buch" als Fach-Buch Eines dieser erbaulichen und zugleich hilfreichen Angebote ist das Buch von Alfred Kirchmayr über Witz und Humor. Prof. Dr. theol. Dr. phil. Alfred Kirchmayr ist also Theologe, Soziologe, Psychologe und vor allem Psychotherapeut. Seine früheren Schwerpunkte waren Religionspsychologie, praktische Theologie, Sozialpsychologie und politische Psychologie. Jetzt ist er Psychoanalytiker in freier Praxis mit den aktuellen Schwerpunkten "Witz, Humor und Lebenskunst", die er - wörtlich - als "Witzlandschaftspfleger" beackert.
Beeinflusst vom großen Meister Prof. Dr. Sigmund Freud (man erinnere sich an eine seiner wichtigsten, wenn auch am wenigsten gelesenen und genutzten Bücher: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten) propagiert er die stärkere Beachtung der "komischen Gesellen Witz und Humor". Seine Erfahrungen als Psychoanalytiker und Zeitgenosse bestätigen ihm täglich, dass in jedem Witz ein Problem verborgen ist, das der Beachtung bedarf. Die Entfaltung von Humor fördert trotz aller Misere in der großen Welt und in den kleinen Welten von uns Erdkrusten-Bewohnern Konfliktfähigkeit, Toleranz und Lebensfreude, gibt er zu bedenken. Und so versteht sich sein Buch als Sach- und "Lach-Buch", mit vielen Witzen gewürzt, um aber dann doch mit diesen heiteren Auflockerungen auf die ernsthaften psychologischen Hintergründe einzugehen. Das illustrieren allein schon die Überschriften seiner Kapitel: Der Clown - Symbolfigur das Humors, das weite Land des Blödelns, politischer Witz - erheiternder Geistesblitz, die Lüste und Enttäuschungen im Sexleben, Partnerschaft, ein Himmel-Hölle-Spiel, jüdischer Humor und Witz im Sinne von Lebenswissen und Lebensweisheit, der "große Humor", sein Wesen und seine Verwandten sowie ein Eingangs-Interview und ein Kapitel über Sigmund Freuds "humor-psychologische" Erkenntnisse. Den Abschluss bildet ein Literatur-Verzeichnis, so umfassend, wie man es zu diesem Thema nur selten findet. Wer sich unterhalten und zugleich bilden will, möglicherweise auch noch von einer tiefgründigen Selbst-Behandlung unterstützt, dem sei dieses Buch empfohlen; übrigens auch als Geschenk-Idee ein guter Tipp. Nachfolgend - wie in diesen Ausführungen öfter zu nutzen - die Kurzfassung eines Kapitels im Sinne einer "erweiterten Rezension". Wir haben "das weite Land des Blödelns - eine Einführung" ausgewählt. Denn diese Form der entlastenden Heiterkeit auf tiefem (in Wirklichkeit natürlich nicht jedem zugänglichen kompliziert-anspruchsvoll-hohen) Niveau scheint uns in letzter Zeit besonders gelitten zu haben. Dabei werden wir doch bildungsmäßig immer klüger und gebildeter, ja cleverer auf allen Ebenen, was schon einmal die Grundlage sichern könnte im Sinne von Heinrich Böll: "Albernheit - man muss Geist haben, bevor man ihn aufgibt ..." Also eine kurz gefasste Übersicht; zuerst aber einige Sätze zum Begriff. Blödeln etymologisch gesehen Blödeln wird gerne mit blöde verwechselt. Da muss man aufpassen. "Blöde" heißt bekanntlich dumm, schwachsinnig. Im 9. Jahrhundert bezeichnete "blodi" soviel wie träge, schwach. Im Mittelhochdeutschen heißt "blöde" = gebrechlich, schwach, zaghaft, furchtsam, eingeschüchtert. Im 18. Jahrhundert entstanden die Worte "blödsinnig" und "Blödsinn". Damals wurden auch folgende Wortkombinationen geläufig: Doppelsinn, Eigensinn, Leichtsinn, Scharfsinn, Tiefsinn, Unsinn, Wahnsinn und Widersinn. Genau diese "Sinne" braucht man aber fürs blödeln. Erst seit dem 19. Jahrhundert heißt also "blödeln" soviel wie bewusst Unsinn reden, sich erkühnen. Sich entblöden heißt im Übrigen auch "die Scheu ablegen". Blödeln bedarf also eines gewissen Mutes, oft Übermutes. Wer blödeln kann, beweist, dass er den Mut und die Stärke besitzt, schwachsinnig sein zu können, ohne es zu sein (A. Kirchmayr). Das weite Land des Blödelns - eine Einführung "Das weite Land des Blödelns, vom Flachland des Schweinigelns bis in die Hochgebirgsregionen der Blödelkunst, entzieht sich listig einer Definition", beginnt Alfred Kirchmayr sein amüsantes Kapitel. Tatsächlich ist "Blödeln" oder "Herumalbern" wissenschaftlich gesehen eine Diaspora. Kaum einer kümmert sich um dieses, an sich psychohygienisch wertvolle Phänomen. Offenbar geniert man sich, so tief herabzusteigen. Aber das ging bzw. geht dem Humor auch nicht viel besser. Er spielt zwar in einer anderen Liga und wird nicht nur von Linguisten (Sprachforschern), sondern inzwischen sogar psychophysiologisch beforscht, hat aber immer noch einen schweren Stand, gemessen an den Negativ-Komponenten Trauer und Depression. Das beginnt schon im Alltag. Blödeln kann man nur in einer Gruppe Gleichgesinnter. Und dort muss eine entsprechend entspannte Stimmung herrschen, gleichsam eine Blödelei-Disposition. Außerdem gibt es Regeln, die man einhalten muss, selbst beim Blödeln. Man kann es aber auch lernen, trainieren und perfektionieren. Dabei wird jedoch eines deutlich: Der eine ist dafür begabt, gleichsam ein "geborener Blödler", der andere muss es sich erarbeiten, zumindest guten Willen zeigen. Natürlich gibt es auch beim Blödeln gewisse Regeln, aber unverbindlich und sich gleichsam durch die Hintertür etablierend. Dazu gehören systematische Umgestaltungen von Sprachformen, kalauer-hafte Wortspiele, so genannte Anti-Witze, absurde Wiederholungen, Sprach-Klang-Spiele und regelrechte Spezial-Sprachen (z. B. die B-Sprache, wobei es zu einer durch "b" eingeleiteten Wiederholung des Silbenvokals kommt; Variationen mit der "f-" oder "s-" Sprache eingeschlossen). In allen diesen Blödel-Arten wird also lediglich die Normalsprache verformt oder negiert (verneint). Die zwei häufigsten Sprach-Momente sind also das freie Spiel und die (aber meist subtilen) Regeln, an die sich allerdings niemand zu halten hat. Es gibt aber auch berühmte Geister, die sich ernsthaft mit dem Blödeln beschäftigt haben, sogar unter den Psychotherapeuten. So beispielsweise Prof. Dr. Viktor Frankl: "Am vernünftigsten ist es, nicht allzu vernünftig zu sein." Das ist Grundregel Nr. 1. Danach eine zweite Empfehlung: "Man darf sich auch von sich selber nicht alles gefallen lassen." Der Hintergrund ist klar: Allzu starkes Selbstmitleid macht humorlos. Und das ist ein Feind der Grundstimmung, die ja das Blödeln erst möglich macht. Blödeln - so A. Kirchmayr - kann also eine Tugend sein. Dazu noch eine, die einem gut tut. Herzliches und befreiendes Lachen fördern das Wohlbefinden von Leib, Seele und Geist. Wer den Begriff Tugend hier für nicht angebracht hält, muss sich von den Experten eines besseren belehren lassen. "Tugend" kommt vom Mittelhochdeutschen und heißt nützlich, tüchtig, brauchbar. So kommt Tugend letztlich von "taugen", früher häufig zu hören als "das taugt mir", d. h. "das frommt, das tut gut, ist brauchbar, macht Spaß." Blödeln ist - psychohygienisch gesehen - also letztlich eine Tugend. Was spielt sich beim Blödeln ab? Um aber in das Phänomen Blödeln tiefer einzutauchen, muss man sich nun doch um einiges Klärendes bemühen. Als erstes das Wort an sich. "Blödeln" ist zwar österreichischen Ursprungs, aber inzwischen im gesamten deutschen Sprachraum gebräuchlich. Im Übrigen ist es ein internationales Phänomen und vor allem in der modernen Literatur inzwischen sehr geschätzt. Was aber geschieht im Einzelnen, fragt der Psychologie, Soziologe und Theologe A. Kirchmayr? Als Erstes werden die üblichen Regeln des Verstandes außer Kraft gesetzt, zumindest vorübergehend. Das gleiche Los trifft den Zwang zum logischen, vernünftigen Denken. Danach muss man eine Einschränkung hinnehmen, allerdings eine entlastende. Im Gegensatz zum Witz hat Blödeln keine Pointe, also keinen Knalleffekt in Erzählung oder Darstellung. Dafür einen heftigen Gegner, nämlich das schon angesprochene allseits dominierende logische, ernsthafte Denksystem, das vor allem dem "Deutschen innewohnt". Im Blödeln wird es neutralisiert, aufgehoben, oder noch besser: überwunden. Dabei wird es aber nicht eliminiert, beseitigt, im Gegenteil. Es wird sogar bewahrt. Denn das Blödeln lebt vom Kontrast zum vernünftigen Denken. Blödeln auf der einen und Vernunft, Verstand, Ratio auf der anderen Seite, das sind die beiden Pole, die sich aber nebenbei nicht "beißen". Es gibt auch keine scharfe Abgrenzung. Das beweist schon die alte Erkenntnis: Die besten Blödler sind auch die schärfsten Denker - zumindest erstaunlich oft. Kirchmayr geht sogar soweit zu behaupten: Je gescheiter einer ist, desto besser kann er blödeln. Und er erweitert seine Überlegungen zu dem Postulat: Blödeln hat System, es ist ein "Tun-als-ob", ein Spiel. Und das unterscheidet es vom puren Unsinn oder Blödsinn. Psychotherapeutisch gesehen ist die Blödelei auch eine Art Urlaub vom oft erdrückenden Ernst des Lebens, eine Regression (Rückschritt) in die Kinderzeit. Und dort wird ja bekanntlich um ein vielfaches mehr gelacht und vor allem geblödelt als im Erwachsenenalter, wo diese erfrischende und Gesundheit erhaltende Eigenart langsam erstirbt (siehe auch das entsprechende Kapitel über das Lachen). Das Blödeln und die Kunst So gibt es die Blödelei, seit es Menschen gibt, in jeder Kultur anders, auch in jeder Subkultur anders und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich. Beweisen lässt sich das allerdings schwer. Denn im Gegensatz zum Witz wird das Blödeln schriftlich nur selten festgehalten. Die mündliche Überlieferung ist viel eher ihr Element. Denn das Atmosphärische spielt beim Blödeln eine weit größere Rolle als beim Witz. Und gerade diese Grundlage lässt sich schriftlich sehr schwer konkret und adäquat umreißen. Außerdem hat die Gabe zur Blödelei auch manches mit Musik und Musik-Begabung zu tun. Ein treffendes Beispiel ist Wolfgang Amadeus Mozart, von dem spätestens im Mozart-Jahr die Mehrheit der Bevölkerung mehr oder weniger fassungslos registrieren musste, wie viel und wie intensiv, fast schon wollüstig der große Meister geblödelt hat, und zwar schriftlich, meist in seinen Briefen. Auch der berühmte Theater-Autor Johann Nestroy aus Wien konnte unerhört gescheit blödeln und dies auch geschickt in seine erfolgreichen Werke einbauen. Und wer den Gipfel der Blödelei genießen will, der greife zu den Gedichten von Christian Morgenstern. Hochtrabender Schwulst ist nicht Blödeln Echtes Blödeln ist also eine Gottes-Gabe, zerbricht alle sprachlichen Zwänge und fördert das befreiende Lachen. Es gibt aber auch eine Art des Blödelns, wo einem das Lachen vergeht, schränkt Prof. A. Kirchmayr ein. Und das ist gerade dort angesiedelt, wo man es am wenigsten vermutet und deshalb auch am seltensten entlarvt: in "höheren" geistigen, politischen, wirtschaftlichen, literarischen und sogar theologischen Sphären. Muss das dort pathetisch (schwülstig) Vorgebrachte und von fremden Wörtern, Satzwürmern und vor Wirklichkeitsfremdheit strotzende Gerede, quasi der scheinbar höhere ideologische oder akademische Schwachsinn nicht auch als Blödeln angesehen werden, fragt der Experte. Seine Antwort, mit Beispielen belegt: Nein, denn jede Art von selbstgefälligem und ideologischem Geschwafel hat mit dem echten Blödeln nichts gemein. Das ist einfach blöde. Das höhere Blödeln als Gegendruck Wir hörten schon: Blödeln ist auch zeit- und damit gesellschafts-abhängig. Das lässt sich bis zu einem gewissen Grad in der Literatur zurückverfolgen (wenn auch leider nicht mit der notwendigen wissenschaftlichen Aufarbeitung - s. o.). Besonders in der modernen Literatur aber ist das Blödeln im Vormarsch, sogar in der so genannten hohen Literatur, bis hin zur lyrischen Überhöhung. Vor allem in der Lyrik scheint das Blödeln unglaublich witzige Blüten zu treiben, freut sich Kirchmayr, und belegt es wiederum mit Beispielen. Blödeln ist wie Improvisieren. Und Literatur gewordenes Blödeln ist fast schon als Komposition zu bezeichnen (man denke nur an den Jazz). Einer der Experten zu diesem Thema, Hans Weigel, stellt deshalb auch fest: Blödeln ist kein Spiel, sondern ein Spielen. Die Blödelnden spielen mit Wörtern und mit der Sprache, mit Redensarten und Klischees, die sie blödelnd bloßlegen, entlarven, abwerten. Und von ihm gibt es dann auch nachfolgende Definition:
Da ist was dran. Denn wir leben in einer Zivilisation, die jede Menge Hemmungen in uns installiert und nur in klar abgegrenzten Bereichen Hemmungslosigkeit zulässt und fördert, z. B. im Bereich der Verblödung der Sinnes- und Besinnungsorgane, der Konsumsucht, der Geldsucht und der blödsinnigen, weil kritiklosen Bewunderung der Reichen und Schönen, mahnt Prof. Dr. A. Kirchmayr. Und er fährt fort: "Blödelnd" vergessen wir leichter diesen unheimlich weit verbreiteten und schädlichen Blödsinn, der als Zeitgeist enorm viel Druck ausübt. Blödeln schafft Gegendruck. Blödeln ist Ausdruck kindlicher, unbekümmerter Spielfreude." Dabei werden zwei Voraussetzungen deutlich: Zum einen bedarf das "höhere Blödeln einer geradezu erotischen Beziehung zur Sprache. Nur wirkliche Liebhaber der Sprache können hingebungsvoll blödeln." Zum anderen muss man den echten Blödler vom professionellen Spaßvogel unterscheiden. "Dem echten Blödler ist das Blödeln nicht Alltag, sondern Fest. Er entweiht es nicht durch übermäßigen Gebrauch, er weiht sich der hohen Übung nur im Einklang mit Gleichgesinnten bei passendem Anlass" (Hans Weigel). Eine uralte, und oft literarisch genutzte Hochform des Blödelns sind die beliebten Schüttelreime. Sie haben es zu einer eigenen literarischen Gattung geschafft. Dabei sind die Formen, Materialien und Dimensionen des Blödelns fast unermesslich, mit zahllosen Übergängen zu surrealistischen und makabren Witzen, vom Schweinigeln bis hin zur hohen Philosophie. Auf jeden Fall sind beim Blödeln alle geltenden Gesetze aufgehoben. "Blödeln ist abstrakt. Die Kunst des Blödelns ist gegenstandslose Kunst. (...) Das Blödeln führt ad absurdum. Der Witz ist Aktion, das Blödeln Reflexion" (H. Weigel).
Blödeln und Regression Regression kommt vom lateinischen regredi, regressus = zurückwerfen, zurückschlagen, zurücktreiben u. a. Neurosen-psychologisch heißt Regression soviel wie Rückschritt bzw. "zurückwachsen". Und dies in frühere, kindliche Seelen- und Geisteszustände. Das kann negativ sein, indem man in infantile (kindliche) Denk- und Handlungsweisen zurückfällt, meist im Rahmen einer seelischen Störung; es kann aber auch positiv sein. Dann versucht man sich wieder in infantilen Seelen- und Geisteszuständen der Kindheit und lässt damit Kindlichkeit und Verspieltheit zu - zu regenerativen oder sonstigen positiven Zwecken. Das ist zweckmäßig für die Psychohygiene und heilsam vor allem für die seelische, geistige und psychosoziale Erholung von den Misslichkeiten und Anstrengungen des Erwachsenen-Lebens. Ein besonders schönes Beispiel für die Regression ist das erotische Liebesspiel: Es braucht keine konkreten Beispiele, man schmunzelt bei jungen Menschen und fühlt sich bei älteren Verliebten irritiert, weil man es dort für nicht (mehr) angebracht hält, aber verbieten lässt es sich nicht. Auch das lustvolle, geradezu kindliche Spiel mit Worten, Gedanken und Einfällen ist Ausdruck dieser kreativen Art von Regression, erläutert Prof. Kirchmayr. Blödeln gehört zu den wichtigsten Formen des Komischen, weil es - eine entsprechende Stimmung vorausgesetzt - zum Lachen reizt. Und infantiler Schwachsinn, also ein Rückfall in das vor-rationale Denken ist eine der Wurzeln des Komischen. Damit entlastet uns das Blödeln vom herrschenden Denk- und Bedeutungs-System der Sprache und der Verständigung. Blödeln ist also Ausdruck von Regression, witzig zwar, aber noch kein Witz, albern, oft absurd, fast "schwachsinnig", manchmal tiefsinnig, jedenfalls ein Reservat für unernst und kindlich verspielte Heiterkeit, erläutert der Autor.
Anarchische Subkultur des Humors Blödeln wird auch als "anarchische Subkultur des Humors" bezeichnet. Das ist eine zündende Charakterisierung, vielleicht von späteren Experten der "Blödelei" nicht voll und ganz akzeptiert, aber schlüssig. Eine Subkultur ist eine relativ eigenständige Kultur einer kleinen Gruppe innerhalb eines größeren Kultur-Ganzen. Sie zeichnet sich durch eine erhöhte Gruppen-Solidarität aus und vor allem durch eigene Normen- und Wertsysteme bis hin zu besonderen Lebens- und Verhaltensweisen. So das Lexikon. Manchmal wird mit Subkultur auch eine Gegen-Kultur gemeint, bei der allerdings bewusst eine der dominierenden Kultur entgegengesetzte Lebensform gepflegt wird. So oder so, das Phänomen des höheren Blödelns ist auf jeden Fall eine Art Subkultur des Humors. Doch es geht noch weiter, man spricht ja von einer anarchischen Subkultur. Anarchie, jeder weiß es, ist Gesetzeslosigkeit, es wird keine Herrschaftsform anerkannt. Blödeln ist also eine "anarchische Subkultur des Humors", wie es D. Wellershoff bezeichnet. Das Charakteristikum dieses "Kommunikations-Spieles" sei nicht nur seine regressive Tendenz (s. o.), die auf fortschreitende Chaotisierung der Realität drängt und sich dabei jeder Kontrolle durch verinnerlichte Normen der Vernunft oder des Geschmackes zu entziehen versucht. Nein, blödeln sei ein freiwilliger Formverlust, ja Niveauverlust. Wobei das von allen Konventionen (gesellschaftlichen Übereinkünften) und realitäts-nahen Regeln frei gesetzte infantile (kindliche) Lustprinzip fast schon einer barbarischen Hemmungslosigkeit nahe komme, die beinahe an das zurück gebliebene Denken des Debilen (leicht Schwachsinnigen) erinnere. Voraussetzung ist allerdings eine Atmosphäre, so der Experte, die frei ist von Angst und Belastungen. Nur so ist die erwähnte anarchische Ent-Formung und Zerr-Störung von Sprache, Denken und Wirklichkeit möglich. Blödeln ist ein unwiederholbares Stegreif-Spiel. Eine Blödel-Gruppe ist eine spontane, exklusive und subversive (umstürzlerische) Kommunikations-Gemeinschaft. Und in der Tat: Oft schafft das Blödeln einen gemeinsamen Code, also ein System von Zeichen, die nur die Eingeweihten oder Fachleute kennen, der dann auch die spontanen Einfälle sinnvoll zusammen hält. Außenstehende finden sich dagegen erst einmal völlig "daneben" bzw. "außen vor". Das heizt natürlich die Lust der Eingeweihten noch an, ihre skurrilen Einfälle mit sinnlos erscheinenden Wort- und Klang-Automatismen und Sprachreimen anzureichern. Unter diesem Aspekt muss dann noch ein weiteres Phänomen gesehen werden. Man könnte es - ein wenig weit her geholt - mit dem alt bekannten Reim veranschaulichen: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert." Oder konkret: Hat man erst einmal den intellektuellen Niveauverlust akzeptierend überschritten, kommt ein weiteres Phänomen des Blödelns auf, nämlich die Freude an der Analität, so A. Kirchmayr. Anal heißt den After, den Anus betreffend. Unter Analitäten werden hier also "Schweinigeleien" verstanden. Zum einen formal-wörtlich, zum anderen im Sinne von: Es wird so ungefähr alles "verarscht", was sich "verarschen" lässt. Auch das ist natürlich nichts anderes als der bewusste oder unbewusste Protest gegen jede Art von Disziplinierung ("so was macht man nicht, man nimmt es nicht einmal in den Mund ..."). Wie unterscheidet sich Komik vom Wahnsinn? In der Blödelei wird also jede vernünftige Realitäts-Verarbeitung verweigert, die Welt wird auf den Kopf gestellt. Da kommt die Frage auf: Das findet man ja auch in der Psychose, in der Geisteskrankheit, vor allem der Schizophrenie. Wo liegt demnach der Unterschied? Ein Vergleich mit dem psychotischen Zusammenbruch und dem Zerbröseln der Realität liegt natürlich nahe. Doch lässt sich das Problem sehr gut differenzieren: - "Sagt der Psychotiker (also beispielsweise der schizophren Erkrankte), dass ihm alles so komisch vorkomme (als Fachbegriff eine Ich-Störung, vor allem in Form der Depersonalisation und Derealisation), so erlebt er nicht Komik, sondern Entfremdung (weshalb fachlich auch als Entfremdungs-Erlebnisse bezeichnet). - Sagt dagegen der Lachende, dass ihm alles "wahnsinnig" erscheine, dann erlebt er nicht den Wahnsinn, sondern Komik, also eine vorübergehende "Verfratzung" der Welt, von der das Ich sich unterscheiden kann und die partikulär (nur einen Teil betreffend) bleibt (nach D. Wellershoff). Blödeln - eine Domäne der Jugend? Die regressiven, anarchischen Verhaltens- und Denkweisen sind in unserer Zeit und Gesellschaft nicht zuletzt wegen des "herrschenden globalen politischen und wirtschaftlichen Wahnsinns" (A. Kirchmayr) größer geworden. Als Kunst und Lebensweise der Gegenkultur könnte man sie als Ausdruck der kleinen oder der "großen Verweigerung" (Herbert Marcuse) verstehen. Die moderne Literatur gibt dabei erfreulich Hilfestellung. Der Aufstand gegen Herrschaft, Moral, Gewohnheit, Geschmack, Logik und Vernunft wird als Form des Protests und in der Absicht, Spontaneität, Sensibilität und Kreativität zu befreien, konsequent und facettenreich durchgespielt. Und zwar in Form methodischer Verrücktheit, künstlichem Rausch und oppositioneller Lebensform. Es ist aber nicht nur die Literatur, die hier hilfreich einspringt, es ist auch die Jugend, an die sich die Hoffnung knüpft, der Blödelei wieder ihren gebührenden Rahmen zu geben. Denn das Blödeln liegt der Jugend mehr als den meisten Erwachsenen, registrieren die Experten. Junge Menschen sind offener, sensibler, spontaner, phantasievoller und kreativer, so D. Wellershoff: "Das Blödeln erfordert ein zu hohes Maß an Spontaneität, Schamlosigkeit und Übermut, um dem durchschnittlichen psychosklerotischen Erwachsenen noch möglich zu sein. Es ist ja auch die Aufkündigung alles dessen, was er repräsentiert." Dabei würde auch der Erwachsene kein Risiko eingehen. Zwar spiegelt sich im Blödeln der Zwiespalt von emanzipatorischen und regressiven Strebungen wider. Doch die einseitige Rationalität (nur die Vernunft entscheidet, was sein darf) wird zwar als Entfremdung abgelehnt, aber durch das Blödeln nicht überwunden, nur vorübergehend aufgelöst, regressiv, d. h. in kindlicher Verhaltensweise. Natürlich wird dadurch auch ein Teil gesellschaftlicher und persönlicher Zwänge neutralisiert. Wo ist Blödeln am häufigsten zu finden? Blödeln hat seine situativen Schwerpunkte: Vor allem dort, wo man in eine diffuse, nicht durchschaubare Zwangslage gerät, nicht lebensbedrohend, aber doch überraschend und unangenehm. Das sind nicht zuletzt verschlossene Türen, Warteschlangen, kurz Alltags-Szenen mit Verdruss-Komponente, aber ohne ernstere Konsequenzen, die jedoch durch entlastendes Blödeln gemildert werden sollen. In ausgelassener Hochstimmung hingegen ist Blödeln nicht oder nur selten anzutreffen, dafür braucht es dann doch wieder mehr geistigen Einsatz. Und natürlich schon gar nicht in starken Druck-Situationen, da geht es ums "Überleben", da bleibt kein Raum für das "abgehobene Herumalbern". Interessanterweise sind die blödel-induzierenden Situationen nur Anlass (s. o.) und kaum Objekt bzw. Inhalt des Blödelns. Man blödelt also nicht über die überraschend verschlossene Tür oder die sich endlos hinziehende Warte-Situation, man blödelt frei. Zwar bleibt man unter konkretem Zwang (es tut sich ja weiterhin nichts oder nur wenig), entflieht aber in eine gleichsam höhere Sphäre, nämlich die des entlastenden Blödelns. Oder konkret mit D. Henrich: "So hat das Blödeln zwar wohl die Funktion der Befreiung. Es befreit aber nicht von der Kultur und aus der von ihr verlangten normierten Aktivität. Es befreit vielmehr in eine Aktivität und aus einer Situation, in die man mit Unlust in Untätigkeit zu bleiben hat. Aus ihr befreit es allerdings mit minimalem Aufwand und zum niedrigsten Preis." Das stimmt. Blödeln kostet wenig und bringt viel - vorausgesetzt, man hat sich dafür entschieden, dazu überwunden, gehört zu den Blödelei-Begabten - und gewinnt dadurch Freiheit und Entlastung.
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |