Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
BLASIERTZur Psychologie der Negativ-Eigenschaften überheblich, hochmütig, eingebildet, hochnäsig
Viel werden die meisten mit dem Begriff blasiert nicht anfangen können. Auf dem Vormarsch sind die Anglizismen, d. h. aus dem Englischen übernommenen Sprachelemente mit Schwerpunkt auf den Amerikanismen, und "blasiert" stammt aus dem Französischen (was früher lange Zeit die international gebräuchliche "Weltsprache" war). Aber auch der Begriffsinhalt ist uns abhanden gekommen - oder doch nicht? Könnte es sein, dass wir uns nach wie vor an jemand stoßen, den wir für überheblich, hochnäsig, eingebildet oder hochmütig halten? Denn das sind die Erklärungen für das alte, offensichtlich vergessene Wort blasiert. So jedenfalls steht es in den Wörterbüchern und Lexika. Und sollte man sich noch tiefer eingraben, dann hört sich dieser "unangenehme Charakterzug" noch weitaus belastender, fast schon dramatisch an, wie nachfolgend im Kasten ausgeführt.
Angesichts einer derart geballten Ladung negativer Eigenschaften mit sicher z. T. folgenschweren Konsequenzen im Alltag und überhaupt wäre es schon einmal interessant herauszufinden, was die Experten, also die Psychologen und Psychiater zu diesem Thema zu sagen haben. Einer von ihnen, der Psychiater Professor Dr. Dr. Nikolaus Petrilowitsch, vor rund einem halben Jahrhundert an der früheren Universitäts-Nervenklinik Mainz tätig, nahm dazu in seinem noch immer lesenswerten Buch über Charakterstudien (S. Karger-Verlag, Basel-New-York 1969) Stellung, in dem er auch das Meinungsbild seiner damaligen Fachkollegen einbezog. Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht zu diesem Thema auf der Grundlage seiner Ausführungen, die durchaus auch heute noch Bestand haben, auch wenn sich der Wortschatz geändert hat und manche, noch so treffende Begriffe abgelöst wurden, wie eben die Blasiertheit. Was also hat Professor Petrilowitsch dazu zu sagen? Antiquierter Begriff, aber zeit-loses Problem Blasiertheit war schon vor einem halben Jahrhundert kein aktuelles Wort mehr. Als bedenklicher Charakterzug ist es natürlich zeitlich ungebunden. Um den "Kurswert" eines Problems zu erkunden, lohnt sich allemal der Griff zu den Enzyklopädien, den umfassenden Darstellungen aller bedeutsamen Wissensgebiete einer Gesellschaft oder Kultur, heute am besten in den großen Lexika präsentiert. Dieses "heute" ist überaus wichtig, denn die Lexika sind ja das jeweilige Meinungsbild ihrer Zeit, ob volkstümlich oder wissenschaftlich fundiert. Und da finden sich dann durchaus interessante Abweichungen, zumindest aber Schwerpunkte in der Schilderung, Erklärung und eben auch Terminologie, als dem jeweils gültigen Wortschatz bzw. seiner Fachausdrücke. In dieser Serie wird übrigens gerne auf solche Vergleiche zurückgegriffen, weil sie Fortschritt, Rückschritt, auf jeden Fall aber den Entwicklungsgang am besten skizzieren. So auch hier, wenn die jeweils gültigen Gewichtungen der entsprechenden Epoche wiedergegeben werden und man durch Vergleich weit auseinanderliegender Auflagen solcher Lexika oder Enzyklopädien interessante Rückschlüsse auf die jeweils dominierende gesellschaftliche oder kulturelle Einstellung ziehen kann. So geißelt das Konversationslexikon von Brockhaus (nebenbei heute noch ton-angebend) um die 19./20. Jahrhundertwende, also vor rund 100 Jahren, die Blasiertheit als "den Tod aller energischer Tatkraft". Und noch direkter: als eine "Modekrankheit materialistisch gesinnter Zeitalter, in denen die Genuss-Sucht sittliche Ideale und Interessen der Wissenschaft und Kunst, der Vaterlandsliebe zurückdrängt". Das klingt zwar erwartungsgemäß etwas verstaubt, aber wir haben uns ja auch vorgenommen, nicht nur Stil und Wortwahl, sondern auch den Zeitgeist der jeweiligen Epoche zu akzeptieren und konstruktiv mit dem unseren zu vergleichen. Tatsächlich schrumpft im gleichen Werk die Heftigkeit der Aussage schon nach wenigen Jahrzehnten auf nur noch zwei Zeilen. Da heißt es dann lediglich und überaus nüchtern, dass "der Blasierte durch ein Übermaß an Reizen abgestumpft, übersättigt sei und deswegen zur Eingebildetheit neige". Heute bleiben selbst im Großen Brockhaus für "blasiert" nur noch einige bedeutungsgleiche bzw. -ähnliche Begriffe übrig. Die Karriere der Blasiertheit ist offensichtlich zu Ende. Oder etwa nicht? Zeitgeist und Gestaltwandel aus psychologisch-psychiatrischer Sicht Durchaus nicht. Denn Begriffe wechseln, Eigenschaften nicht. Hier beginnen Interesse, Aufgabe und Arbeitsgebiet von Psychologie und Psychiatrie, sofern sie sich mit solchen möglicherweise als "grenzwertig" oder "unwichtig empfundenen Eigenschaften" beschäftigen. Das ist zwar augenblicklich, d. h. in einer eher biologisch orientierten Zeit reichlich unmodern, doch zeichnet sich trotz allem ein wachsendes medizin-, psychologie- und psychiatrie-historisches Interesse ab, das sich nicht zuletzt auf die so genannten epochalen Einflüsse bezieht, oder auf Deutsch: Wie ändert sich etwas im Laufe der Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte? In der Psychiatrie bietet sich dabei vor allem die Psychopathologie an, also die Lehre von der Symptomatik, dem Beschwerdebild seelischer Erkrankungen. Denn es ist eine alte Erkenntnis der früheren Nervenärzte und jetzigen Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten, dass die "Auswirkungen des Zeitgeistes einen erstaunlichen Gestaltwandel" im Seelenleben des Menschen bahnen oder gar erzwingen können. Einzelheiten würden hier zu weit führen und können bei Interesse nachgelesen werden in den verschiedenen Kapiteln dieser Serie, vor allem was die Neurosen (einst und heute), Persönlichkeitsstörungen (früher Psychopathien genannt), ja sogar die Depressionen, Angststörungen, Suchtkrankheiten u. a. anbelangt. Dabei zeigt sich nämlich, dass der Wandel der Begriffe auch in vielen (wenngleich nicht in allen) Fällen auf einen Wandel des "zeit-typischen seelischen Beschwerdebildes" zurückgehen kann. Dazu eines der bekanntesten Beispiele: Die Hysterie ist heute kein Thema mehr, zumindest nicht zahlenmäßig. Sie ist auch vom Begriff her so stigmatisiert, dass man sie umbenannt hat ("histrionisch", vom Lateinischen: histrio = Gaukler). Schon Anfang des letzten, des 20. Jahrhunderts reagierten die Menschen tatsächlich bei der so genannten Konversion affektiver Erschütterungen und Spannungen in leibliche Vorgänge diskreter, unpersönlicher, sachlicher und sogar uniformer als zu Zeiten der "grande hystérie", wie N. Petrilowitsch in seinem lesenswerten Beitrag ausführt. Auf Deutsch heißt dies: Wenn jemand in gemütsmäßiger Hinsicht stark belastet ist und damit nicht folgenlos fertig wird, dann kann sich das aus dem seelischen in den körperlichen Bereich übertragen (lat.: convertere = umwandeln, umwälzen), bis hin zu rein seelisch bedingten, aber körperlich auftretenden Beschwerden im hysterischen Sinne, die kein Facharzt erklären könnte. Beispiele: Früher eher dramatisch, also "hysterisch" geprägt wie seelisch bedingte Lähmung, Erblindung u. a., heute dezenter in psychosomatischer Form (s. u.). Das hat - wie gesagt - deutlich nachgelassen. Es war aber auch früher nicht bloß die Domäne seelisch labiler ("hysterischer") Frauen, sondern sogar vorzugsweise der Männer (man lese nur einmal sorgfältig die Erzählungen aus 1001-Nacht). Heute ist dies jedoch kein Thema mehr. Zwar findet nach wie vor die Umwandlung seelisch nicht ertragbarer Belastungen ins Körperliche statt (Fachbegriff: Somatisierung, also "Verkörperlichung"), doch in meist dezenten, wenngleich nicht weniger beeinträchtigenden bis quälenden psychosomatisch interpretierbaren Formen (psychosomatisch, d. h. ein unverarbeitetes seelisches Problem äußert sich körperlich, aber ohne organisch nachweisbaren Grund). Beispiele: Herzschmerzen ohne Herzinfarkt, Atemnot ohne Lungenleiden, chronische Rückenschmerzen ohne entsprechende Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule u. a. Kurz: Der Mensch bleibt Mensch, aber seine Reaktionen können sich ändern, vor allem an den jeweiligen "Zeitgeist" anpassen, was früher nicht anders war und sich auch in Zukunft nicht ändern wird. Ändern tut sich allerdings das zeit-typische Profil, weil es sich neuen Anforderungen (einschließlich Tugenden und Negativ-Eigenschaften) stellen muss und insbesondere das Verständnis für andere, z. B. frühere "Leidens-Profile" verblassen lässt. Wie steht es nun in diesem Zusammenhang mit der früher so bezeichneten Blasiertheit, auch wenn man sie heute anders benennt?. Und dies vor allem weil die Betroffenen bzw. Opfer nicht weniger geworden sind? Zur Definition blasierten Verhaltens Der Begriff "blasé" kam Ende des 18. Jahrhunderts auf, und zwar als durchaus naturwissenschaftlich orientierter Fachausdruck für Übersättigung; die gesellschafts-psychologische Bedeutung erlangte er erst später. Die Übersättigung allerdings wurde vom Körperlichen auf das Seelische bzw. Psychosoziale übertragen, worauf die Definition basiert: "Blasiert ist der durch ein Übermaß an Reizen übersättigte und abgestumpfte Mensch" (Brockhaus, zitiert nach N. Petrilowitsch). Mit der Blasiertheit verbindet sich im Übrigen eine früher offenbar gesellschafts-typische (Un-)Person, nämlich der Dandy, auch ein ehemals gängiger (abwertender) Ausdruck, den heute kaum einer mehr kennt. - Unter einem Dandy (englisch, aber nach dem indianischen: Dandi = "Stockträger") verstand und versteht man einen Mode-Narren, einen Gecken. Das Dandytum (Dandyismus) entwickelte sich in England seit 1815 aus einer Clique extravaganter Adliger unter Führung des aus dem Bürgertum stammenden G. B. Brummel ("Beau Brummel"), ein damals gefeierter Modeheld der Londoner Gesellschaft (der aber trotz oder vielleicht wegen seines schillernden Lebenswandels schließlich verarmt starb - eine für den Nachruf oder gar Nachruhm zwar herbe, aber nicht unergiebige Konsequenz). Dieser Dandy jedenfalls galt als Inbegriff "blasierten Dünkels und seichten Genusses". Später bezeichnete man so etwas als Snob. - Der Begriff des Snobs hat aber ebenfalls einen Bedeutungswandel durchgemacht. Im 18. Jahrhundert sollen an der ruhmreichen englischen Universität Cambridge bürgerliche Studenten mit dem gesellschaftlich diskriminierenden (?) Vermerk s(ine) nob(ilitate) gekennzeichnet bzw. gebrandmarkt worden sein, abgekürzt: snob. Später verstand man darunter jemand, der über die große Welt in Erstaunen gerät, weil er sie nicht kennt ("wer Niedriges in niedriger Weise bestaunt"). Schließlich entwickelte sich die heutige Snob-Definition, ein wenig umständlich, aber doch überaus treffend: Übertriebene Wertschätzung der eigenen Person, zumal der äußeren Erscheinung: anfällig für das Fashionable, Exklusive und Aristrokatische, verbunden mit unverträglicher (und für die anderen langsam unerträglicher) Prahlerei und herablassendem Benehmen. Oder kurz: Ein Snob ist blasiert. - Der berühmte Psychologe Professor Dr. Ph. Lersch formulierte deshalb: "Blasiert ist derjenige, der durch sein Verhalten zu verstehen gibt, niemand sei wert, seine Aufmerksamkeit zu erregen, nichts gebe es, was er nicht bereits erlebt und ausgekostet habe." Ein solches Verhalten beruhe entweder auf eigener Erlebnisunfähigkeit und innerer Leere oder stelle eine Technik der Herabsetzung des anderen dar, durch die eine demonstrative Kundgabe von Gleichgültigkeit und Uninteressiertheit erzeugt werden soll. Dies alles geschehe in der Absicht, sich selbst ein besonderes Ansehen zu geben. Was will der Blasierte demonstrieren? Mit anderen Worten: Durch blasiertes Benehmen soll stets ein hoher persönlicher Rang demonstriert werden. Man versucht sich außerhalb der üblichen Bandbreite angemessener Normen zu stellen, um jeden Preis aus der Mitwelt als "Mann/Frau von Welt" herauszuragen. Um solch "einsame Höhe" zu demonstrieren, muss man sich natürlich auch höchst originell und individuell geben. Damit verstrickt man sich allerdings auch rettungslos in Äußerlichkeiten, orientiert man sich doch nur an der Welt des Scheins. Oder wie es N. Petrilowitsch zusammenfasst: Der eine versucht sich in der Nachahmung von Verhaltensweisen, die er für vornehm hält, in forciert-gezierten Manieren, der andere in kapriziösen Auswüchsen der Extravaganz. Kennzeichnende Merkmale blasierten Verhaltens Wie äußert sich das nun konkret? Hier bietet wieder Professor Lersch in treffender Weise ausdrucks-psychologisch fassbare Merkmale blasierten Verhaltens (nachzulesen in seinen noch immer oder immer wieder wegweisenden Werken "Gesicht und Seele" sowie "Aufbau des Charakters"): - Wenn das optische Interesse am Gegenüber gering ist, pflegt der Blasierte (Snob) mit einem passiven Herabsinken der Oberlider zu reagieren. Die früheren Psychologen sprachen dabei vom so genannten "verhängten Auge". Dieses Herabsinken eines oder beider Oberlider kann natürlich auch eine neurologische Ursache haben, eine Störung, die man Ptosis nennt. Es kann aber auch die Folge von ausgeprägter Ermüdung sein oder mit geistiger Trägheit, wenn nicht gar Lahmheit zusammenhängen. Ist dies aber nachgewiesenermaßen nicht der Fall, sondern wird gezielt eingesetzt, um dem anderen zu demonstrieren, was man von ihm hält (nämlich nichts), dann handelt es sich um eine gezielt eingesetzte Mimik der Blasiertheit. - Dies kann nebenbei noch durch ein verstärktes Auftreten horizontaler (querer) Stirnfalten verstärkt werden. Die früheren Psychologen sehen darin die offenkundige Einschätzung und Absicht, wie wenig man den anderen geistig, seelisch, psychosozial, ja körperlich, aber auch beruflich, auf jeden Fall irgendwie gesellschaftlich wahrzunehmen gewillt ist, ihn einfach nicht beachten möchte. Oder schlicht gesprochen, wie man das früher gekennzeichnete: "Die Stirne herablassend kräuseln", d. h. verächtlich in Falten legend. Professor Lersch hielt es allerdings auch für wahrscheinlich, dass es nicht (nur) darum gehe, das Gegenüber abzuwerten, sondern auch den Darstellungseffekt des eigenen Ausdrucksverhaltens gleichsam zu potenzieren, das Interesse auf sich zu lenken, zu bündeln, oder schlicht: "Eindruck" auf den anderen zu machen, indem man den anderen erniedrigt und sich (damit) selbst erhöht. - Dabei könne man bisweilen auch ein eigenartig abwertendes Lachen registrieren. Dieses Lachen des Blasierten soll ausdrücken, dass der Mitwelt nicht die volle, bejahende Zuwendung gelte, wie sie im Lachen sonst enthalten ist. Die Verächtlichkeit dieser Form des Lachens zeige sich auch in einer ganz bestimmten Form, mit der die beiden wichtigsten Lach-Muskeln ge- bzw. missbraucht werden (nämlich die Musculi zygomaticus und triangularis). Die müssen nämlich beide Mundwinkel im abwertenden Lachen nach unten ziehen, also ein nicht befreiendes oder gar anerkennendes, sondern hämisches Lachen provozieren. Dabei handle es sich bei diesen strategisch eingesetzten mimischen Auffälligkeiten oftmals auch noch um keine beidseitigen, sondern einseitige Muskel-Demonstrationen (so muss man es jetzt fast schon nennen). Oder in schlichten Worten: Ein überheblicher bis dünkelhafter Mundwinkel bringt mehr als beide, weil er den arglosen Gegenüber schon rein optisch eher verwirrt. Das heißt: Zur Optimierung der visuellen Arroganz sinkt am besten nur ein Augenlid herab und wird nur ein Mundwinkel heruntergezogen. Manchmal ist diese Ausdrucks-Demonstration zwar beidseitig, aber einseitig verstärkt, was eine gewisse mimische Begabung oder zumindest Übung voraussetzt. Es mangelt also nicht an Variationsmöglichkeiten herablassender, abschätziger oder gar hämischer mimischer Gebärden. - Schließlich wird auch noch auf die so genannte "fluktuierende Mimik" hingewiesen. Darunter versteht man einen ständigen Wechsel des mimischen Gebärdenspiels, so dass sich der andere kaum auf eine wohl bekannte und damit besser einschätzbare Bewegungsabfolge einstellen kann. Das gibt natürlich dem Blasierten einen Vorsprung, zumal das Gegenüber immer dem erhofften Endpunkt der mimischen Aussage hinterhereilen muss. Kaum hat er sich eine Meinung gebildet, ist er schon wieder mit einer neuen Mimik-Situation konfrontiert, was seine adäquate Reaktionsfähigkeit natürlich nachhaltig einschränkt. Der Blasierte aber hat erreicht, was er will, nämlich nicht nur die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern auch noch den Eindruck des "Multi-Potenten", des "Hintergründig-Bedeutungsvollen" zu erwecken. - Der Gipfel dieses "Spiels" ist dann mit der nicht mehr rein mimischen, sondern zwischenmenschlich-psychosozial allseits bekannten Strategie erreicht, keine eindeutige Stellung zu etwas zu beziehen, sondern sich immer nur auf Andeutungen zu beschränken. Auch das erfordert große Anstrengung für das Gegenüber, definitiv herauszufinden 1. um was es geht und 2. welche Meinung der andere nun wirklich haben könnte, um auch hier halbwegs angepasst oder gar gleichwertig reagieren zu können. Wieder ist er im Nachteil. - Und schließlich die alt bekannten Tricks, nämlich eine leise und gedehnte Sprechweise. Auch sie erfordert einer erhöhte Anstrengung für das Gegenüber, nämlich zum einen auch nur akustisch zu verstehen, was gemeint ist (vor allem in einem lauten Umfeld) und zum anderen den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten, der nötig ist, um den Durchblick vom ersten bis zum letzten Wort zu behalten bzw. den Sinn des (über-)gedehnten Satzes zu erfassen. Der Zweck ist bekannt: Alles in der Schwebe lassen und auf diese Weise eine gleichsam bedeutungsträchtige Atmosphäre zu verbreiten. Oder wie es N. Petrilowitsch zusammenfasst: Zum Blasierten gehört das Meiden schlichter, sachlicher Feststellungen und die Bereitschaft zu flüchtigen, fragmentarischen (stückhaften) Aussagen, zu unverbindlichen, schillernden Phrasen, d. h. abgegriffene, inhaltsleere sprachliche Wendungen. Grundlage und Motor dieses Gehabes ist die Geltungssucht, die Triebfeder zu immer neuer Originalität, was sich vor allem erst einmal im Ausdrucksverhalten dokumentiert. Denn das zielt auf eine augenfällige Exklusivität ab: "Mit Ausdrucksmitteln sparsam umgehen bedeutet im Falle des Blasierten instinktsicher eine Auswahl der Ausdrucks-Effekte treffen, und zwar mit dem Zwecke hohen persönlichen Rang darzubieten. Vornehmheit, Würde, Bedeutsamkeit werden nun einmal nicht durch Hektik und Bewegungsstürme, sondern durch so genannte "vornehme Zurückhaltung offenkundig gemacht" (N. Petrilowitsch). - Bisweilen, so die Experten, findet sich natürlich auch eine Grenzüberschreitung des Mimischen, Psycho-Motorischen oder gar Pantomimischen, vor allem bei als "gesucht" empfundenen Haltungen des Kopfes, der Hände, wenn nicht gar durch eine gezierte, geschraubte bzw. vertrackte Gesamthaltung. Das muss nicht so extrem sein, wie es bei manchen schizophren Erkrankten gesehen werden konnte (früher, heute kaum mehr). Man sollte aber trotzdem darauf achten. Denn bei guter Beobachtungsgabe lassen sich auch bei blasierten Gesunden zumindest dezente manirierte (s. o.) Ansätze erkennen - und diagnostisch im Alltag nutzen. Dazu braucht man übrigens kein Experte zu sein. Das durchschnittliche menschliche Vermögen, Ausdrucks-Erscheinungen in ihrer Vielfältigkeit, ja Subtilität (d. h. auch nur andeutungsweise) zu verstehen, ist weitaus größer als wir ahnen, auch wenn wir das Ergebnis dann nicht in entsprechende Worte fassen können, wie es dem Fachmann gegeben ist. Selbst der gehetzte moderne Mensch hat sich einen Rest an Gespür erhalten, was der andere vor hat (früher im Überlebenskampf in der freien Natur ja bekanntlich eine lebens-erhaltende Gabe). Und was steckt dahinter? Grundlage des Ganzen - es wurde schon mehrfach angedeutet -, ist ein überzogenes bis unbändiges Geltungsbedürfnis. Der blasierte Mensch will hochrangig, will souverän wirken, will, ja muss den anderen in den Griff bekommen. Hierzu dient ihm die - wenngleich oft genug brüchige - Fassade der Reserviertheit, des Vorbehalts; oder wie es die Psychopathologen eindrucksvoll ausdrücken: das Pathos der Distanz bzw. Distanziertheit. In der Nichtbeachtung des Gegenüber, in der Abwertung all dessen, was diesem der Rede, des Nachdenkens und des Handelns wert ist, wird die Gewichtigkeit der eigenen Person unterstrichen, gibt N. Petrilowitsch zu bedenken. Und weiter: Der Blasierte will den Eindruck erwecken, als sei er allen Anfechtungen des Alltags entrückt, unerreichbar, unanfechtbar. Diese Distanzierung von den Menschen und Dingen des Alltags kann eine regelrechte "Ich-Mythologisierung" anbahnen. Oder kurz: eine überzogene Erhebung oder Über-Erhebung bis zur übersinnlichen Natur der eigenen Person. Die alten Psychiater hatten dafür auch einige alltags-relevante Verhaltens-Beschreibungen: erlesene Vornehmheit, überlegene Gelassenheit, desillusionierter Gleichmut - aber alles zumeist "auf dünnem Eis", bildhaft psychologisch gesehen. Man muss sich diese Charakterisierungen einfach einmal in Ruhe "auf der Zunge zergehen lassen" - und kommt dann auch gleich zu praktischen Beispielen aus dem eigenen Umfeld. Auf jeden Fall nimmt es nicht wunder, dass blasierte Menschen einen hohen Grad von Eitelkeit zeigen. Das äußert sich beispielsweise in Effekthascherei, in koketter Pose, in "affektierter" Erhabenheit. Das Adjektiv "geistreich" wird übrigens von den früher oft stilistisch und rhetorisch gewandten Psychiatern in köstlicher Ironie als "geist-reichelnd" entlarvt. Außerdem pflegen Launenhaftigkeit und Eigensinn zu den beliebten Praktiken zu gehören, um Persönlichkeit zu demonstrieren. So kommt ein Charakterzug zum anderen, nämlich in diesem Fall zusätzlich ein narzisstisch überzogenes Selbstgefühl mit der Gefahr abnormer Egozentrizität (Ichbezogenheit). Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie - oder mit einem Satz: hoher Anspruch des Selbstgefühls bei fehlender Bereitschaft zur Teilnahme an den Interessen und Sorgen der anderen. Wer also in die Rolle des Blasierten hineinwächst, gerät in Gefahr - ohne es zu merken. Eine davon ist die Gemüts-Verhärtung oder gar Gemüts-Verkargung (karg = ärmlich, bescheiden, beschränkt, dürftig, kläglich, kümmerlich, hager, schwach, unergiebig u. a.). Heute spricht man eher von Gemüts-Verödung. Ein weiteres Problem ist der Negativ-Einfluss auf so wichtige menschliche Eigenschaften wie Gewissen und Gemüt. Was weiß die Psychiatrie und Psychologie darüber zu berichten? Von der Blasiertheit zur geltungssüchtigen Thymopathie? Mitte des 20. Jahrhunderts gab es einen psychiatrischen Fachbegriff, der ein bestimmtes, vor allem abnormes Gefühlsleben charakterisieren sollte, nämlich die Thymopathie. Unter Thymopathen verstand man damals eine Gruppe von Psychopathen (heute Persönlichkeitsstörungen genannt, siehe das entsprechende Kapitel in dieser Serie), deren Abnormität sich hauptsächlich auf die Stimmung bezieht. Es konnte aber auch in spezifischen Fällen ein fast suchtartiges Geltungsverlangen durchschlagen, weshalb man diese Menschen dann auch als geltungssüchtige Thymopathen bezeichnete. Geltungssüchtigen Thymopathen komme es - so die damalige Sichtweise - nicht auf den Erfolg durch Leistung an, sondern lediglich auf den so genannten Beachtungs-Erfolg, also nicht unbedingt Anerkennung, sondern Aufmerksamkeit um jeden Preis. Deshalb zeigen geltungssüchtige Thymopathen auch keine Scheu zu entsetzen, abstoßend zu wirken, ja zu schockieren, wenn sie nur Aufsehen erregen, beeindrucken, ihr Umfeld regelrecht überwältigen können. Der Grund liegt in einer unausgereiften Gewissens- und Gemüts-Struktur dieser Menschen, die sich nicht ein- und unterordnen können, ja alle festen Regeln nicht nur beiseite schieben, sondern auch noch lächerlich zu machen versuchen. Denn was lächerlich (geworden) ist, muss man nicht ernst nehmen, selbst wenn es im Grunde moralisch verpflichtend ist. Sie selber interpretieren aber diese Strategie als toleranz-verpflichtete Prinzipien-Feindlichkeit, lehnen also alles (vor allem von "oben") Geregelte ab. Sie fallen aber auch durch einen bisweilen gnadenlosen Egoismus auf. Außerdem interessiert sie vorrangig das gerade "Modische" und "Interessante", die momentane Deutung, die Aktualität, was mit einer ausgereiften echten Sach-Verbundenheit schwerlich vereinbar ist. Für den geltungssüchtigen Thymopathen spielt das aber keine Rolle, zumal er ohnehin bindungs-unfähig ist und ihm letztlich nichts zu Herzen geht, wie man das früher ausdrückte. Auch ihr entwurzelungs-gefährdetes Denken fällt erst einmal gar nicht auf, weil das auch eine für andere überraschende Flexibilität bis hin zur unkalkulierbaren Umstellungsfähigkeit und damit Freiheit bedeuten kann. Wer sich auf nichts einlässt, nichts anerkennt, wer macht was er will, ist selbstredend ein riskanter Gegner, vor allem für jene, die sich an Regeln, Gesetze, Prinzipien zu halten versuchen. Die früheren Psychiater formulierten dies in einer Sprache, die uns heute eher fremd ist, gleichwohl das Phänomen treffend charakterisiert: Die erwähnten Aspekte "gehören zu den Voraussetzungen für die Entfaltung einer leichtfüßig-sprunghaften Denkweise, einer bisweilen "aphoristisch-geistreichelnden" Denk-Eleganz und zu den unverbindlichen Verbindlichkeiten des formgewandten, aber gemütskalten "Gesellschafts-Menschen". Diese Negativ-Eigenschaften verbinden sich typischerweise mit demonstrativer Verachtung des Pflichtmenschen, ja schon von Gewissenhaftigkeit und Fleiß schlechthin". Oder kurz mit den heutigen Worten: Clevere, gewandt, ja bisweilen sogar elegant wirkende, aber letztlich prinzipienlose Blender, die nicht nur infrage stellen, was ihnen nicht passt, sondern es auch noch gezielt lächerlich machen. Der Blasierte muss nicht unbedingt ein geltungssüchtiger Thymopath im früheren Sinne sein, also nach heutiger Klassifikation eine entsprechende Persönlichkeitsstörung, zumeist eine Mischung aus narzisstisch und hysterisch. Er zeigt aber zumindest in verdünnter Form entsprechende Einstellungen, aber auch Fähigkeiten, je nach Bedürfnis und Situation. Damit hat er natürlich mehr Freiheitsgrade als der "brave Mitbürger", der sich an die Regeln hält und damit im Konfliktfall bzw. Schlagaustausch dann meist den Kürzeren zieht. In diesem Zusammenhang kommt N. Petrilowitsch dann noch einmal auf äußere Aspekte, vor allem auf Mimik und Gestik zu sprechen: Sowohl der geltungssüchtige Thymopath als auch - in der erwähnten verdünnten Form - der Blasierte neigen dazu, Gemütsregungen nicht nur ständig wechseln zu lassen, sondern auch gezielt einzusetzen. Oder konkret: Äußere Einflüsse, die Freude, Betroffenheit u.ä. auslösen, führen beim "normalen" Menschen zu entsprechenden Reaktionen, die jeder nachvollziehen kann. Der geltungssüchtige Thymopath und der Blasierte setzen Emotionen dagegen nicht nur gezielt ein, um die gewünschte Wirkung sicherzustellen, sondern versagen sich auch normal-psychologischen Reaktionen, die der andere erwartet, dann aber nicht vorfindet und erst einmal verunsichert in die Defensive geht. Also wiederum: Überraschungs-Strategie erfolgreich. Eine echte Gefühlstiefe ist jedoch beiden versagt. Dabei scheint es aber fließende Übergänge zu geben. Dies besonders dann, wenn die Blasiertheit tief in der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur verankert ist, tief und damit unveränderlich, d. h. nicht lernfähig. Die früheren Psychiater diskutierten dabei sogar eine "polare Ausprägungsform". Dabei finden sich - gleichsam auf einem seelischen Mess-Stab repräsentiert - auf dem linken Pol Eigenschaften wie impulsiv, exaltiert, unstet, antriebsgesteigert, zu Gefühlsduselei und Betriebsmacherei neigend. Und auf dem rechten Pol antriebsgeminderte und gleichzeitig blasierte Typen ("was soll's") mit ihrem "müden Lächeln". Die Ursachen: genetisch - umwelt-bedingt - gemischt? Am Schluss bleibt jedoch grundsätzlich die Frage: Was ist biologisch anlagebedingt, was umwelt-abhängig erworben? Für N. Petrilowitsch ist beides möglich und manches überlappt oder potenziert sich sogar. Die Anlage erscheint ihm klar und eindeutig, nämlich die erbliche Belastung (wobei man nicht nur bei den Eltern und deren Geschwistern, sondern auch bei den Großeltern und deren Verwandten nachforschen sollte, oft überspringt es eine Generation). Bei der umwelt-bedingten Verursachung gab es früher offenbar zwei Ansätze in der Seelenheilkunde: Die eine, die so genannte orthodoxe Psychoanalyse ging von tiefgreifenden Einzel-Traumen (seelischen Verwundungen) aus. Die andere legte den Schwerpunkt auf die jeweilige Atmosphäre der entsprechenden Lebensgemeinschaft, aus der der Betroffene stammte. Den dort herrschenden "unterschwelligen Dauer-Impulsen" wurde übrigens im Laufe der damaligen Forschung die größere Wirkkraft zugebilligt. Oder kurz: Das Umfeld entscheidet entscheidend. Wie aber hat dieses negativ prägende Umfeld auszusehen? Die Antwort ist unbefriedigend, nämlich: vielgestaltig, mehrschichtig, lässt sich nicht auf einen einzigen Auslöser festnageln. Da komme eines zum anderen. Denn das Leben sei eben wie das Leben ist, nämlich bunt. Ein Faktor wird aber immer wieder herausgehoben, und zwar die Verwöhnung, vor allem der Luxus. Menschen, die in einer solchen Atmosphäre aufwachsen, insbesondere Einzelkinder, zeigten nicht selten kennzeichnende Merkmale der Blasiertheit, die man als Symptom der Übersättigung, des Überflusses werten muss. Bei solchen Lebensverläufen beobachtet man - so die Psychiater früher und die heutigen wollen das nicht grundsätzlich infrage stellen -, nicht nur einen schon bereits in der Kindheit feststellbaren erhöhten bis überhöhten Normal-Anspruch, sondern das geradezu als selbstverständlich empfundene Verlangen nach einer für andere nie erreichbaren "Verwöhnungs-Atmosphäre". Oder mit den Worten von N. Petrilowitsch: "Menschen, denen, sei es durch Herkunft, sei es durch das Walten blinder Zufälligkeiten, oder durch überdurchschnittliche Gaben, das Lebensglück ohne eigene Anstrengung zufällt, gewinnen leicht das Bewusstsein einer persönlichen Sonderstellung, werden von dem Bewusstsein mühelosen Gelingens durchdrungen und zeigen sich im Umgang mit anderen oft blasiert." Oder kurz: Wem es das Schicksal offenkundig zu leicht gemacht hat, auf welcher Ebene auch immer, hält dies womöglich nicht nur für sich(!) für normal, sondern gerät auch noch in Gefahr, die geistig, materiell, gesellschaftlich oder wie auch immer weniger Begüterten von oben herab zu beurteilen: blasiert. Ist das günstig? Keinesfalls, wer zweifelt daran. So kann beispielsweise eine materielle Atmosphäre absoluter Sicherheit durchaus negative Konsequenzen haben. Sie macht einen persönlichen Einsatz unter alltäglichen Mühen überflüssig und verhindert damit letztlich und vor allem bei jungen Menschen in der Entwicklung eine echte, tiefe, leidvoll erfahrene und vor allem überdauernde Bindung an Partnerschaft, Beruf, Aufgaben jeglicher Art. Dadurch - so die Psychiater - können auch die Fähigkeiten zu tief empfundenen, strukturell verankerten persönlichen Gemütsbeziehungen verkümmern oder sich erst gar nicht entfalten. "Wo das Leben nicht immer wieder dem Menschen den Einsatz der ganzen Persönlichkeit abnötigt, da bildet sich das Vermögen zu einem solchen Engagement allmählich zurück." Oder kurz: Wer nicht gefordert wird, auch mit negativen Ereignissen, gerät in einen "Trainings-Verlust des Lebens", der schwerwiegende Langzeit-Folgen haben kann. Das ist auch der tiefere Grund für die offenkundige und manchmal sogar hektische Langeweile verwöhnter Personen. Der Psychiater W. J. Revers äußerte dies in seinem Beitrag über "Die Langeweile - Krise und Kriterium des Menschseins" in dem treffenden Satz: "Der blinde Fleck, wo das Gewissen war". Das macht auch das Entstehen eines unverbindlichen, aus dem Luxus erwachsenen "Geschmäcklertums und Ästhetentums" verständlich, wie man das früher ausdrückte und wie man es vor allem bei Blasierten und in überzogener Weise bei geltungssüchtigen Thymopathen finde. Manche Psychiater waren sogar der Meinung, dass dieser überzogene Ästhetizismus, also die einseitige Beurteilung aller Lebenserscheinungen nach dem Maßstab des Schönen, der Kunst, des Geschmackvollen, des Stilvoll-Kultivierten, aber wohlgemerkt: in diesem Fall Überzogenen, Einseitigen, ja demonstrativ Vorgebrachten, dass dieser Ästhetizismus sogar Gemüt und Gewissen nicht nur zurückdrängen, sondern ggf. auch ersetzen könne. Die Folgen sind bekannt: blasiert. Blasiert als Kompensation und pubertäres Durchgangsstadium? Blasiertheit ist aber auch als Flucht-Reaktion möglich, wenn sich beispielsweise ein Mensch durch Überforderung oder Gefährdung des Selbstwertgefühls in Überheblichkeit, Anmaßung, Arroganz u. a. zu retten versucht. Dann ist die Blasiertheit ein Kompensationsvorgang, gleichsam eine Über-Kompensation. Dies ist in jeder Art und Weise möglich: seelisch, geistig, gesellschaftlich, materiell. Dann ist die Blasiertheit ein schützender Hafen vor den Orkanen des Lebens bei begrenzter Fähigkeit damit fertig zu werden (ein schützender Hafen, der allerdings mitunter nicht ohne erstaunliche Anstrengung, Hartnäckigkeit und Konsequenz angesteuert wird, das ist dann offensichtlich der Ausgleich). Ob sich dieser Kraftakt dann auch "rechnet", ist eine andere Frage. Denn das Umfeld hat, auch wenn es erst einmal keine offene Stellung bezieht, ein feines Gespür für die Fassade, hinter der sich Unfähigkeit, Brüchigkeit, Ängste u. a. verstecken können. Dies vor allem dann, wenn sich die Selbsteinschätzung notgedrungen nicht nur ständig überhöht, sondern auch die Leistung der anderen immer geringer gewertet wird, damit das eigene Selbstwertgefühl gewahrt bleibt. Im bildhaften Vergleich sind das jene Personen, die die anderen um sich herum eingraben, damit sie wenigstens auf diese Art über ihnen zu stehen kommen. Das kann sich natürlich als "Lebenslüge" entpuppen und damit die blasierte Einstellung zur Mitwelt verfestigen - ein Teufelskreis. Professor Dr. Dr. N. Petrilowitsch sieht also vor allem zwei Möglichkeiten der Blasiertheit, was die Entstehungsweise anbelangt. Das eine ist die Entwicklung der Persönlichkeit, was sich dann im negativen Fall als "abnorme Persönlichkeitsentwicklung" äußert. Da braucht es dann schon viele Informationen, um zu einem angemessenen Untersuchungsergebnis mit fundierter Diagnose zu kommen. Bedeutend einfacher, leichter durchschaubar, für das Schicksal des Betreffenden auch harmloser und zeitlich mehr oder weniger befristet ist die Blasiertheit als Reaktion der Persönlichkeit auf äußere Einflüsse. Entsprechende Beispiele drängen sich dem Leser von selber auf. Eine davon ist die Blasiertheit während der Pubertät, wie sie nicht selten beobachtet werden kann - und sich auch glücklicherweise wieder zu verflüchtigen pflegt. Bei den reaktiven Formen der Blasiertheit finden sich in der Regel auch nicht das volle Ausdrucksbild, bestenfalls einzelne Hinweise, flüchtig, schneller durchschaubar und oft nicht ganz ernst zu nehmen. Dies vor allem dann, wenn sich der Eindruck des Gekünstelten, Verkrampften, "Aufgesetzten" und Unechten aufdrängt. Petrilowitsch formuliert es übrigens sehr treffend: Der "habituell" (also anlagemäßig) Blasierte spielt sich selbst; der in ein blasiertes Verhalten Gedrängte aber spielt - den Blasierten. Bei der reaktiven Blasiertheit, alters- und zeit-begrenzt insbesondere bei Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen, ist die Prognose, sind die Heilungsaussichten meist günstig. Hier ist die Blasiertheit nur ein Symptom der Reifungskrise auf dem langen Weg der charakterlichen Aus-Bildung der Persönlichkeit. Wenn sich ein stabiles Werte-Bewusstsein abzuzeichnen beginnt, können diese Menschen auf blasiertes Verhalten, auf die "gekünstelte Pose", wie man es früher nannte, irgendwann einmal verzichten. Dann sind sie gerettet. Wem das aber nicht gegeben sein sollte, aus welchen Gründen auch immer (s. o.) der wird mit dieser Wesensart, ganz gleich wie man es nennt, nicht glücklich. Oder wie heißt es so schön: Man kann wenige Menschen lange blenden, man kann viele Menschen kurzzeitig blenden, aber man kann nicht viele Menschen langzeitig blenden. Und das Leben ist lang und man begegnet darin vielen Menschen. So einfach ist das - und so schwer auf Dauer für Blasierte. LITERATUR Grundlage dieses Beitrags ist das Kapitel: Petrilowitsch, N.: Zur Psychologie und Psychopathologie der Blasiertheit. In: N. Petrilowitsch: Charakterstudien. S. Karger-Verlag, Basel-New York 1969 Weitere Literaturangaben des Autors zu seiner Zeit: Bayer, W. v.: Zur Statistik und Form der abnormen Erlebnisreaktionen in der Gegenwart. Nervenarzt 19 (1948) 408 Bollnow, O.F.: Wesen und Wandel der Tugenden. Ullstein-Verlag, Frankfurt 1958 Bühler, K.: Ausdruckstheorie. Gustav Fischer-Verlag, Jena 1933 Kranz, H.: Über neuzeitlich-epochale Bedingtheiten des psychisch Abnormen. Psychiatrie und Gesellschaft. Huber-Verlag, Bern-Stuttgart 1958 Lersch, Ph.: Gesicht und Seele. Reinhardt-Verlag, München 1932 Lersch, Ph.: Der Aufbau des Charakters. Barth-Verlag, Leipzig 1948 Mühle, G.W., A. Wellek: Ausdruck, Darstellung, Gestaltung. Studium generale 5 (1952) 110 Panse, F.: Pathopsychologie der Entstellung. Med. Kosmetik 7 (1958) 228 Petrilowitsch, N.: Zur Frage nach der Bedeutung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses für das menschliche Verhalten. Jahrbuch Psychologie-Psychotherapie 2 (1954) 425 Petrilowitsch, N.: Zur Auflösung des Hysterie-Begriffs. Schweizer Archiv Neurologie 78 (1956) 159 Petrilowitsch, N.: Intelligenz, Bildung, Persönlichkeit. Jahrbuch Psychologie-Psychotherapie 6 (1958) 130 Revers, W.J.: Die Langeweile - Krise und Kriterium des Menschseins. Jahrbuch Psychologie-Psychotherapie 4 (1956) 157 Schubel, F.: Das englische Dandytum als Quelle einer Romangattung. Lundequistska Bokhandeln, Upsala 1950 Stutte, H.: Körperliche Selbstwertkonflikte als Verbrechensursache bei Jugendlichen. Monatschrift Kriminologie 40 (1957) 71 Thackeray, W.: Das Snobsbuch. Verlag Müller, München-Leipzig 1910 Wellek, A.: Die Polarität im Aufbau des Charakters. Verlag Francke, Bern 1950 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |